«Hi, ihr Lieben! Ich beginne meinen Tag nach meiner Meditation gerne zusätzlich mit einem Workout», lacht eine (wirklich einfach irgendeine) Youtuberin in die Kamera. Und man denkt: «Ich nicht». Schnitt. Die junge fröhliche Frau beim Workout. Die Sonne scheint. Als nächstes wird verkündet, dass sie gerne Chiasamen in den selbst gemachten Smoothie schüttet und man denkt: «Ich nicht».
Aber man könnte. Man hätte ja – nur schon heute – eigentlich so vieles erledigen können. Hat man nicht. Man hätte so vieles werden können. Wurde man nicht. Und ausserdem hat man jetzt, in diesem Internet, ständig die Möglichkeit, sich damit zu konfrontieren, dass andere es eben heute schon getan haben. Es schon geworden sind.
Styling für die Seele
Mittlerweile sind es viele. Eine Armee von hypergesunden, immer fröhlichen Menschen, die alles immer im Griff zu haben scheinen. Junge Frauen und Männer geben Tipps, wie man genauso penetrant gut gelaunt, erfolgreich und hyperhealthy werden kann. Unzählige. Und noch immer will ich ihnen zusehen, und noch immer erscheint das eigene Leben dagegen etwas zu unordentlich, etwas zu verregnet und viel zu wenig mit seichter Popmusik unterlegt. Das Internet sagt mir: Ich brauche Hilfe, um mir selbst zu helfen.
Auch Harry und Meghan tuns…
Früher galt es als Schwäche. Man benötige Hilfe, sagte man hinter vorgehaltener Hand. Heute klingt es viel positiver, es heisst: Hier will sich jemand entwickeln. Tatsächlich stammen viele Coaching-Ansätze aus der sogenannten positiven Psychologie, jener Fachrichtung, die nicht wie die Psychotherapie nach den Defiziten fahndet, sondern erforscht, was den Menschen glücklicher macht und welche Stärken er dafür weiter ausbauen müsste.
Coaching ist gesellschaftsfähig geworden. Es kommt sozusagen in den besten Familien vor. Und immer mehr Menschen arbeiten offen nicht nur an ihrem Äusseren, sondern auch an ihrem Innenleben. Mithilfe von Coachings, Meditationsapps und Lifestyle-Therapien. Apropos beste Familien: Auch Prinz Harry hat sich vor Kurzem als Fan eines Selbst-Hilfe-Gurus geoutet. Nämlich Coach Brené Brown. Die – so schreibt The Times – habe ihn gelehrt, seine Verletzlichkeit als Stärke zu sehen. Nicht als Schwäche.
Was ist ein Coach?
Brené Brown ist in dem Bereich vielleicht eine der bekanntesten. Zumindest in den USA. Die Psychologie-Professorin hält regelmässig TED-Talks. Hat sieben Bücher geschrieben (darunter New York Times Bestseller), die da heissen «Entdecke deine innere Stärke», «Laufen lernt man durch Hinfallen» und eben Harrys Favorit: «Verletzlichkeit macht stark».
Ein Coach bewegt sich – bestenfalls zertifiziert – in einer Grauzone. Irgendwo zwischen dem Psychologen, dem Sozialarbeiter und dem Guru. Zu seinen – oder besser gesagt ihren (Coaches sind überwiegend weiblich) Themengebieten gehört: die Begleitung des übergewichtigen Mitbürgers beim Joggen (Personalcoach), die Vorbereitung auf Jobgespräche (Laufbahncoach) oder generell die Heilung der Seele (Lebenscoach. Sie coachen in allen Fällen). Bei konkreten Fragen reichen bei einem Coaching oft zwei Sitzungen. Bei schwierigeren Themen sind auch mal fünf nötig, lesen wir auf der Seite von Tanja Wolf, einer Schweizer Vertreterin dieses Berufszweiges.
Coaching boomt weltweit – auch in der Schweiz
Dass Coaching auch in der Schweiz immer populärer wird, zeigen entsprechende Studien. Der Markt wächst. Auf Google Trends hat das Wort «Lifecoach» ausserdem eine beachtliche Karriere erlebt, ist im Beliebtheitsindex innerhalb der letzten fünf Jahre von 58 auf derzeit durchschnittlich über 90 gestiegen (bei Google heisst 100, das Interesse ist maximal).
In der Deutschschweiz gibt es mittlerweile über 50 Institutionen, die Leute zu Coaches ausbilden und ihnen zu im Arbeitsmarkt mehr oder weniger bekannten Titeln verhelfen. Das Problem: Coach ist kein geschützter Begriff. So kann sich jeder nennen. Umso schwerer haben es dafür die Kunden und Kundinnen, die Spreu vom Weizen zu trennen. Ein Zertifikat ist dabei schon mal ein guter Anhaltspunkt. Philipp Thüler von der Föderation der Schweizer Psychologen und Psychologinnen rät bei der Wahl des Coaches wirklich darauf zu achten, dass dessen oder deren Ausbildung seriös ist und keine falschen Heilversprechen gemacht werden.
Coaching versus Psycholotherapie
Bei Verdacht auf Depression, Schlafstörungen oder Anzeichen einer Suchterkrankung muss gemäss Thüler unbedingt ein Psychotherapeut oder eine Psychotherapeutin konsultiert werden. Ein seriöser Coach teilt dem Klienten oder der Klientin mit, wenn er nicht mehr weiterhelfen kann und verweist ihn oder sie an eine entsprechende Fachperson.
Ein Unterschied zwischen Therapie und Coaching sei ausserdem, so schreibt die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die Orientierung an Zukunft versus an der Vergangenheit. Beim Coaching sucht man nach den Stärken für die Zukunft. Der Coach hilft der Klientin oder dem Klienten dabei eine Lösung zu finden, die jeder oder jede bereits in sich trage. Wenn jemand immer wieder an seinen Defiziten und der Vergangenheit hängen bleibt, ist das aber ein Fall für eine Therapie.
Zerreissprobe in Pastelltönen
Die Optimierung des Selbst ist ja eben stark im Trend; ein besseres Ich anzustreben – nicht in erster Linie schlecht. Problematisch wird es dann, wenn man nach diesen viel zu hoch am Himmel stehenden Sternen zu greifen beginnt, die einem Social Media zeigt. Aber das ist auch schon wieder eine andere Geschichte. Hören wir uns dazu doch den TED-Talk der berühmten Brené Brown zum Thema Verletzlichkeit an. Da geht es nämlich auch darum, warum wir unser wahres Selbst ständig hinter perfekten Masken verstecken.
Und weil man sich während des Optimierens so schön optimieren kann – lasst uns darauf mit einem Smoothie anstossen. Wie die glücklichen Mädchen auf den sozialen Netzwerken. Denn Smoothies machen schöne Haut für schöne Selfies. Selfies sind wichtig, sonst wissen andere nicht, wie schöne Haut man hat (thank you, for coming to my TED-Talk).
Was meint ihr? Leben wir einen Selbstoptimierungswahn oder ist die steigende Tendenz hin zum Coaching eine wünschenswerte?