Trotz Wohlstand und Demokratie nach wie vor für Anerkennung und Recht kämpfen? Jap, so sieht das tagtägliche Leben einer Schweizer Dragqueen aus. Paprika ist eine von ihnen. Unter den gefälschten Wimpern steckt Michel von Känel, 22.
Während seiner Verwandlung vom Mann zur Halloween-Braut hat er uns verraten, wie und warum sich Dragqueens für ihre Community, für generelle Gleichberechtigung, für Body-Positivity und gegen Gewalt einsetzen. Spoiler: Wir sollten uns von seiner Einstellung eine dicke Scheibe abschneiden. Und wir wissen jetzt, wieso Leimstift ins Schmink-Etui gehört.
Style: Michel, wir gehen später auf eine Halloween-Party. Macht es dir nichts aus, als Dragqueen durch Zürich zu stöckeln?
Michel von Känel: Ich habe ein dramatisches Kostüm für eine tragische Braut gebastelt. Ganz wohl ist mir schon nicht. Nicht etwa, weil ich mich schäme, sondern weil es gefährlich sein kann. Aber wir sind ja heute zu zweit, da könnte einer Hilfe holen, falls etwas passiert.
Hilfe holen?
Naja, es gibt immer wieder Angriffe auf Drags oder die LGBT-Community. Ein Freund wurde mal mit einem Messer attackiert, als er aus einem Club kam, obwohl er nicht mal kostümiert war.
Ist dir sowas auch schon passiert?
Glücklicherweise nicht. Und das ist wirklich ein Wunder, denn früher bin ich vom tiefsten Aargau in voller Montur zu meinen Shows nach Zürich gereist. Im Nachhinein war das ziemlich naiv. Ich hatte Glück, aber unser Gesetz muss sich da dringend mehr für Drags und Homosexuelle einsetzen.
Inwiefern?
Verbrechen an der LGBT-Community werden nicht als Hassverbrechen, sondern als übliche Verbrechen abgestempelt. Diese Angriffe basieren aber auf grundlegendem Hass gegenüber queeren Personen und finden mit physischer und psychischer Gewalt statt. Am 9. Februar können wir aber endlich darüber abstimmen, dass Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung strafbar wird.
«Ich bastle mir einen Arsch aus Schaumstoff, aber für Frauen sind diese Erwartungen der Gesellschaft ja knallharte Realität.»
Du setzt dich als Dragqueen also auch politisch ein?
Total! Eine Dragqueen ist immer politisch: Wir zeigen Gendernormen den Stinkefinger und drücken gesellschaftlichen Idealen ein «Fuck you» auf. Ich schlüpfe in Geschlechterrollen, zeige eine übertriebene Version der Frau und merke dabei übrigens auch, welchen unrealistischen Schönheitsidealen Frauen entsprechen müssen.
Klingt fast schon nach Feminismus.
Ich bezeichne es eher als Body-Positivity und Hyperfeminität. Als Dragqueens nehmen wir Stereotypen und überspitzen sie. Ich bin beispielsweise eher dünn und kann den curvy «Idealen» einer Frau nicht entsprechen. Ich bastle mir dann einen Arsch aus Schaumstoff, aber für Frauen sind diese Erwartungen der Gesellschaft ja knallharte Realität.
Also machst du Drag, weil du ein politisches Statement setzen willst?
Das ist zwar heute ein grosser Teil davon, aber ursprünglich wollte ich einfach meine feminine Seite ausleben. Ich spiele Theater, nähe und liebe das Dramatische. Mit Drag kann ich alle Hobbys verbinden und mich mit Paprika als Kunstfigur präsentieren.
Liegt der Reiz von Drag in der Verwandlung?
Das Verkleiden macht mir Spass, aber ich bin happy, wenn ich mich abschminken und den Leim von den Augenbrauen wischen kann. Symmetrische Augenbrauen zu malen, ist übrigens die grösste Herausforderung, denn Schminken war vorher gar nicht Meins. Der Reiz von Drag liegt deshalb vor allem darin, mich zu verwirklichen.
«Ich bin gerne ein Mann.»
Was meinst du mit «verwirklichen»?
Die Leute meinen, ich will eine Frau sein, aber das stimmt nicht. Ich habe viele verschiedene Seiten, die ich mit Drag zum Ausdruck bringen kann. Dank Paprika konnte ich mich so akzeptieren, wie ich bin. Ich habe mich mit 20 Jahren als Homosexueller und Dragqueen geoutet und seither habe ich das Gefühl, mit mir im Reinen zu sein.
Fühlst du dich wohl in deiner Haut?
Ja, ich bin gerne ein Mann. Trotzdem bin ich froh, dass ich meine Feminität ausleben kann. Viele Menschen haben Mühe damit, ihre Facetten zu zeigen und ich bin froh, dass ich da ein Vorbild sein kann. Ich inszeniere mich in meinen Shows so, wie ich will.
Du zeigst dich als Drag so, wie du gerade Lust hast. Wieso geht das nicht auch im Alltag?
Man wird von der Gesellschaft nicht akzeptiert oder hat zugegen auch Angst vor ihr. Aber wir sehen es ja heute Abend: An Halloween verkleiden sich Männer auch mal als Frau oder anders rum. Das stört ja dann niemanden. Ich denke die Menschen, die Dragqueens oder die LGBT-Community diskriminieren, haben einfach Angst vor dem Unbekannten.
Aber auf Social Media sind Dragqueens mittlerweile ziemlich präsent und meist akzeptiert.
Das stimmt. Momentan ist Drag irgendwie ein Trend, weil es verschiedenste Themen wie Gleichberechtigung, Feminismus und Gewalt im Nachtleben aufgreift. Diskriminierung ist in jeglicher Hinsicht nicht mehr zeitgemäss und deshalb kriegen Dragqueens heute so viel Aufmerksamkeit. Das wurde ja schliesslich auch Zeit.
Denkst du, dass die Gesellschaft generell offener wird?
Ich hoffe es. Menschen sollten öfters hinter die Fassade blicken: Ich arbeite als Lehrer und Drag ist einfach ein Hobby wie jedes andere. Das ist ja nix Spezielles, ich bin ein ganz normaler Typ. Aber was ist schon normal.
Willst du denn als Lehrer auf diese Thematik aufmerksam machen?
Meine politischen Überzeugungen gilt es klar von meinem Unterricht abzugrenzen. Zu meiner Aufgabe als Lehrer gehört es jedoch Jugendliche zum Reflektieren von Geschlecht und Rollenerwartungen anzuregen. Dies ist auch klar so im Lehrplan 21 verankert, genau wie die Abhandlung der Diskriminierungsthematik.
Okay, letze Frage: Wo kriegen wir denn bitte eine so edle Haarspange her?
Das ist tatsächlich die Hochzeitsspange meiner Mutter (lacht).
Und die darfst du dir einfach so ausleihen?
Ja, ich darf mich manchmal an ihren Kleidern und am Schmuck bedienen. Ich kriege Zuhause von allen Seiten Unterstützung. Das schätze ich sehr, denn es ist nicht selbstverständlich – leider. Aber ich bin zuversichtlich, dass es das irgendwann sein wird.