Ich bin das einzige Kind, das meine Eltern je gezeugt und grossgezogen haben. Was für eine Ehre, wenn man viel Zeit mit Mama und Papa verbringen kann und deren ganze Aufmerksamkeit bekommt – müsstet ihr jetzt denken. Aber wahrscheinlich habt ihr euch gerade vorgestellt, wie ich als trauriges kleines Mädchen im Garten mit meinen Puppen spiele und neidisch zu den Nachbarskindern rüber gucke. Doch Überraschung: Mich stört es nicht, ein Einzelkind zu sein. Die einzige, die wirklich ein Problem mit einer dreiköpfigen Familie hat, ist die Gesellschaft.
Mitleid? Nein danke.
Wenn ich mich in einer Smalltalk-Runde als Einzelkind vorstelle, erhalte ich häufig ein «dieses Allein-Sein ist bestimmt schwierig» ins Gesicht geklatscht. Äh, danke?! Diesen Spruch lasse ich nicht auf mir sitzen und schiebe deshalb gleich hinterher, dass meine Eltern mittlerweile mit neuen Partnern leben und deren Kinder jetzt meine Stiefgeschwister sind. Die Folge meiner Aussage: Noch mehr Mitleid, weil ich die Scheidung meiner Eltern als einsames Kind durchstehen musste – bravo.
Um ehrlich zu sein wundert es mich nicht, dass die Menschheit gegenüber Einzelkindern skeptisch ist. Denkt nur mal an all die Bösewichte aus Hollywood, die haben kein soziales Umfeld, geschweige denn Geschwister (Blair Waldorf lässt grüssen). Ausserdem eignet sich der Einzelkind-Status für jeden Streit als Totschlagargument. Dann heisst es «du bist Einzelkind, du verstehst das nicht» und die Diskussion ist beendet. Denn, egal was ich jetzt noch sage, mit der göttlichen Kombination aus Einzelkind und Scheidungskind bin ich die perfekte Zielscheibe.
Stereotypen so weit das Auge reicht
Die Rechtfertigung durch meine Stiefgeschwister ist deshalb reiner Selbstschutz: Ich will nicht in den Topf der Vorurteile geschmiessen werden. Oute ich mich als Einzelkind, sieht die Gesellschaft in mir sofort ein bemitleidenswertes Wesen. Ich kann weder streiten noch vernünftig kommunizieren und habe keine Ahnung von Selbständigkeit. Ich bin ein Egoist und Narzisst, der sich selbst als Zentrum des Universums sieht.
Zugegeben: Ich würde lügen, wenn ich all diese Stereotypen komplett verleugnen würde. Ich finde auch, dass Einzelkinder sich manchmal etwas zu wichtig nehmen, weil sie von Geburt an die vollständige Aufmerksamkeit der Eltern abkriegen und das nun auch von anderen erwarten. Und klar ist man dann auch mal alleine Zuhause. Aber dafür hab ich schon damals lernen müssen, dass Me-Time eher Freund als Feind ist. Und by the way: Ich war ein Teenager, der häufig sturmfrei hatte. Noch Fragen?
Egal wie viele Kinder, auf die Erziehung kommt es an
Viel wichtiger als die Anzahl Geschwister ist deshalb die Erziehung und unter welchen Verhältnissen man aufwächst. Früher waren fast ausschliesslich die Leute Einzelkinder, die unehelich geboren wurden oder einen Elternteil verloren hatten, bevor ein zweites Kind zur Welt kam. Sie waren also nicht gerade zu beneiden und wurden zu Aussenseitern. Dabei spielte allerdings nicht das Fehlen der Geschwister, sondern die schwierige Familiensituation die entscheidende Rolle.
Die Kinder werden dabei selbständig und kommunikativ, weil sie mit den Erwachsenen auf gleichem Niveau reden wollten. Deshalb – und das ist wissenschaftlich bewiesen – können sie frühzeitig sehr reif handeln und reagieren. Ich habe nie mit der grossen Schwester über Barbies gestritten, nie den kleinen Bruder zum Weinen gebracht und musste auch nie mein Bett, Plüschtier oder Velo teilen. Aber dennoch weiss ich, wie man streitet. Ich weiss, wie man teilt und wie man sich um seine Freunde kümmert. Das Geheimrezept? Tolle Eltern, die mich in ein Dorf voller Kinder gesteckt und mein Sozialleben auf Trab gehalten haben.
Friends are family
Die stereotypische Idee, Einzelkinder wären einsam, ist deshalb absoluter Blödsinn. Ihr kennt bestimmt das Sprichwort: Freunde sind die Familie, die man sich aussucht. Da habt ihr es, schwarz auf weiss. Ich rede eben nicht mit meiner Schwester über Probleme, sondern mit meiner besten Freundin. Und als die Nachbarskinder im Garten rumtanzten, sass ich nicht einfach weinend nebenan, sondern stellte mich vor sie hin, quasselte mir die Seele aus dem Leib und spielte mit. Das war Sozialisierung vom Feinsten und bringt mir übrigens auch heute noch Vorteile: Nie ist es mir unangenehm fremde Leute anzusprechen, weil ich mir es gewohnt bin, auf Leute zu gehen zu müssen.
Also, liebe Gesellschaft, bitte stoss die Vorurteile doch endlich mal die Klippe runter. Nur weil die Eltern es bei einer einzigen Geburt belassen haben, ist man nicht gleich ein traumatisiertes Wrack. Und by the way: Auch Leute mit Geschwistern können verwöhnt und egozentrisch sein. Aber der springende Punkt ist, dass wir in jeder Lebenslage auf Unterstützung zählen können. Ob die von der Schwester, dem Bruder, der besten Freundin, Mama oder Papa kommt, spielt ja nun wirklich keine Rolle.