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  4. Interview mit Ivo Muri zum Thema Zeit: Wo die Zeit verloren ging
Zeitforscher im Interview:

«Zeit ist nicht Geld. Zeit isst Geld»

Wie ticken wir im Alltag? Und wer gibt den Takt an? Ivo Muri ist Zeitforscher und kennt den Unterschied von Zeit und Uhr. Er weiss, wann die Zeit zu Geld wurde. Und erklärt, wie wir uns vom Diktat der maximal möglichen Beschleunigung befreien können.

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Ivo Muri in einem Kirchturm in Sursee, neben der Kirchturmuhr. (Diese wurde vom Familienunternehmen hergestellt, welches von seinem Bruder geleitet wird.)

«Wir alle sollten wieder einen gemeinsamen Feierabend haben»: Ivo Muri, 63, in der Turmuhr der reformierten Kirche Sursee LU, seiner Heimatgemeinde.

Roger Hofstetter

Sie sind Zeitforscher und studieren wirtschaftliche und politische Fragen. Wie kamen Sie dazu?

Ivo Muri: Durch meine Erfahrung als Sohn eines Turmuhrenbauers und als Gründer einer Softwarefirma für Zeiterfassungslösungen wurde mir bewusst, dass viele gesellschaftliche Fragen mit dem «Zeit ist Geld»-Mechanismus zusammenhängen. So befasste ich mich vermehrt mit dem Phänomen der Wechselwirkung und dem Unterschied von Zeit und Uhr.

Wann verwischte dieser Unterschied, historisch betrachtet?

Über Jahrhunderte. Nach der Sonnenuhr wurde die mechanische Uhr ursprünglich zur Organisation des gemeinsamen Tagesablaufs und zur Koordination des Arbeitseinsatzes erfunden. Dann wurden die 24 Zeitzonen eingeführt. Während der Industrialisierung kam die Arbeitsteilung, darauf fielen Grenzen und Zollschranken, und zuletzt wurden mehrere Wirtschaftsräume in Währungsunionen vereint.

Die Folge davon?

Einhergehend mit den Entwicklungen wurden Wirtschaftlichkeit und Produktivität immer weiter angehoben und gleichzeitig die Konkurrenz verstärkt. Die Uhr wurde zur Zeit – und umgekehrt. Die globale Fabrik war lanciert.

Und wo sind wir heute angelangt?

Die Globalisierung erreicht durch das Internet unsere Wohn-, Arbeits- und Freizeitzonen in Echtzeit. Es gibt nur noch eine, die 24/7-Zeitzone. Die sozialen Netzwerke bestimmen unser Leben. Momentan sind wir bei der maximal möglichen Beschleunigung.

Können wir uns dem denn entziehen?

Nein. Wir alle stehen unter dem Einfluss der kollektiven Zeit. Es gibt keine Zeit- und Raumgrenzen mehr. Das bedeutet, dass jedes Unternehmen, das nicht mitmacht, wettbewerbsunfähig wird und früher oder später aus dem Wettlauf ausscheidet.

Die Folge davon?

Wir Menschen kommen in Zeit-, Arbeits- und Geldkonflikte. Gleichzeitig sollen die Löhne stetig steigen, de facto muss die Marktleistung noch mehr angekurbelt werden, und wir müssen noch mehr arbeiten. Die Zufriedenheit und das Gemeinwohl bleiben dabei auf der Strecke.

Ihre Erkenntnis?

Schuld daran ist nicht die Uhr oder die Zeit, sondern die heutige Wirtschafts- und Geldmechanik. Zeit ist nicht Geld. Zeit isst Geld.

Wie können wir dem abhelfen?

Die Öffentlichkeit kann nur über den politischen Prozess, die Gesetze, etwas ändern. Wir alle sind eingebettet in der Gemeinschaft, und nur zusammen ist eine Neuorganisation der Zeit möglich.

Wie könnte das aussehen?

Die kollektive Zeit muss neu strukturiert werden, sodass jeder wieder seine eigene Zeit einteilen kann. Wir müssen wieder getrennte Lebens- und Zeiträume sowie abgegrenzte Zonen für Arbeit, Wohnen und Produktion schaffen. Die Wiedereinführung des Feierabends für alle sollte angestrebt werden, damit die Gesellschaft sich nicht selbst in der Zeit auflöst.

Habe ich als Einzelner überhaupt eine Chance, mich davon zu befreien?

Ein Individuum kann sich dem nur sehr schwer entziehen – als Eremit oder als Aussteiger.

Von Richard Widmer am 14. Januar 2023 - 15:00 Uhr