Immer wieder kommt es in den USA zu Gewalt gegenüber Schwarzen. Der Tod des Afroamerikaners George Floyd ist dabei nur das jüngste Beispiel und kein Einzelfall. Wir erinnern uns an den Fall Trayvon Martin, der 2012 in Sanford in Florida von Wachmann George Zimmermann erschossen wurde oder an den Schüler Michael Brown, der 2014 in Ferguson im US-Bundesstaat Missouri von einem weissen Polizisten getötet wurde. Wie ist das zu erklären, weshalb kommt es regelmässig zu solchen Gewalttaten?
Diese traurigen Alltagserfahrungen sind das Resultat jahrhundertealter historischer Prozesse. Es sind Nachwehen verfestigter rassistischer Strukturen, die das Land seit Anbeginn seiner Existenz begleiten. Gerade was die Gewalterfahrungen angeht, die bei Konfrontationen von Afroamerikanern mit der Polizei entstehen, da haben wir es mit einem Polizeiwesen in den USA zu tun, das in vielen Punkten eben auch dem hinterherhinkt, was man sich von der Bürgerrechtsbewegung lange versprochen hat. Was man vielleicht nicht im Blick hat, ist, dass die Geschichte der Polizei auch eng mit derjenigen der Sklaverei verknüpft ist. Ab dem späten 18. Jahrhundert wurden lokale Polizeibehörden dafür eingesetzt, die schwarze Bevölkerung zu kontrollieren und zu disziplinieren sowie, im sklavenhaltenden Süden, Fluchtversuche zu unterbinden. Zwar sind wir aus der Phase der Sklaverei längst raus, aber die in ihr angelegten Strukturen der Unterdrückung und Benachteiligung sind längst nicht überwunden.
Wo liegen die Wurzeln des Rassismus gegenüber Schwarzen? Wie ist dieser historisch entstanden?
Das beginnt schon 1619 – ein lange sträflich vernachlässigter Referenzpunkt in der US-amerikanischen Geschichte – weil das das Jahr ist, in dem zum ersten Mal versklavte Afrikaner nach Virginia verschifft wurden. Dieses Ereignis bildet den Urknall der US-amerikanischen Sündengeschichte der Sklaverei, denn ohne die Verknechtung afrikanischer Sklaven wäre die Entwicklung der Kolonien und später der USA ganz anders verlaufen. Sklaverei und Rassismus sind schon von Beginn an untrennbar miteinander verknüpft.
Die sozialen Unterschiede zwischen Schwarzen und Weissen in den USA sind immens. Schwarze verdienen viel weniger, sind häufiger arbeitslos und landen öfter im Gefängnis. Woher kommt diese Ungleichheit, die noch heute zwischen den Ethnien herrscht?
Bereits in den ersten Generationen der Besiedlung Nordamerikas waren afrikanische Menschen präsent, zumeist als billige Arbeitskräfte in einer untergeordneten, nahezu rechtlosen Rolle. Diese Ungleichheit hat sich im Grunde, trotz vieler Sprünge, nie ganz aufgelöst. Auch nach dem Ende der Sklaverei 1865 hatten viele weisse Bürger die rassistische Einstellung, dass Schwarze ein Kindervolk seien, das nach seiner Befreiung im Grunde so etwas brauche wie eine Art Vormund, der es an die Hand nimmt und schrittweise zivilisiert. Die Abschaffung der Sklaverei ist nicht gleichbedeutend mit dem Ende des Rassismus. Diese hatte diverse andere Gründe, z.B. religiöse oder auch sozioökonomische. Bis auf wenige Ausnahmen war es nie das Ziel der weissen Sklavereigegner, die völlige soziale und politische Gleichstellung schwarzer Menschen zu erreichen. Heute hat der Rassismus viele Gesichter. Es gibt zwar Gesetze, die es verbieten, schwarze Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe politisch oder ökonomisch zu diskriminieren, aber da gibt es eben auch noch die soziale Praxis. Die ungleiche Verteilung ökonomischer Ressourcen und sozialer Privilegien, die auch immer bedeutet, dass dort, wo die wichtigen Entscheidungen getroffen werden – z.B. wer darf wo wohnen, wer wird wie hart vor Gericht bestraft, wen stellt man ein, welchen Menschen gewährt man Einlass in bestimmte Institutionen – diese Strukturen sind auch heute noch vorhanden. Ein wichtiger Faktor ist auch, dass Weisse und Schwarze auch im urbanen Raum geografisch immer noch getrennt sind, also in unterschiedlichen Wohnbezirken leben, wo die Schulen ganz anders ausgestattet sind. Auch bei der Polizei gibt es diese Diskrepanz zwischen Polizeibehörden, die nach wie vor mehrheitlich von weissen Offizieren geleitet werden, und einer afroamerikanischen Bevölkerung, die zwar in den Bezirken wohnt, sich aber von ihnen nicht repräsentiert fühlt.
Der mittlerweile verhaftete Polizist hat George Floyd sein Knie fast neun Minuten lang in den Nacken gedrückt. «I can't breathe» («Ich kann nicht atmen»), sagte dieser immer wieder und bat den Officer, von ihm zu lassen. Gemäss einem Autopsiebericht soll Floyd an den Folgen des Einsatzes erstickt sein. Woher kommt diese Gewalt? Wie kann man sich so etwas erklären?
Ich kann natürlich nicht in das Herz dieses Menschen schauen, man kennt den Täter nur aus diesem Video, das in den sozialen Medien kursierte. Man weiss nicht genau, was da psychologisch passierte, dass er da so erbarmungslos vorgegangen ist. Aber auch hier gibt es einen sozialhistorischen Kontext. Man muss nochmals auf die besondere institutionelle Beschaffenheit der Polizei in den USA eingehen. Es ist ja so, dass man als Polizist in den USA, unter der Berufung auf ein wie auch immer geartetes Bedrohungsgefühl, nahezu einen Persilschein hat. Ob man wirklich bedroht worden ist oder nicht, ist da oft sekundär. Die geltenden Gesetze geben Polizisten in der Art und Weise, Recht und Ordnung durchzusetzen, extrem freie Hand. Trotz vieler aufwühlenden Gewaltaktionen, die wir in den vergangenen Jahren gesehen haben, müssen die Beamten oft keine wirklichen Konsequenzen fürchten. Wenn sie sich in einem solchen Klima bewegen, senkt das natürlich auch die Hemmschwelle.
Auch wenn sich jetzt viele Polizisten mit den Demonstrierenden solidarisch erklären und sich Medaria Arradondo, der Polizeichef von Minneapolis, in einer emotionalen Ansprache für das Geschehene bei den Angehörigen entschuldigte, wieso kriegen die Polizeikorps Rassismus und Gewalt nicht in den Griff?
Es gibt, was die Ausbildung betrifft, grossen Nachholbedarf in vielen Polizeibehörden. Angehende Polizisten werden in Crashkursen mal schnell an der Waffe oder im Nahkampf ausgebildet, aber sozialpsycholgische Arbeit oder effektives Deeskalationstraining findet, wenn überhaupt, nur in unzureichendem Masse statt. Es gab in den letzten Jahren immer wieder Reformbemühungen, die aber auf kommunaler oder bundestaatlicher Ebene der heillosen Polarisierung im Land zum Opfer gefallen sind.
Was müssten die Behörden tun, um solche Gewalteskalationen in den Reihen der Polizei zu stoppen?
Wichtig ist, und da scheinen die Behörden jetzt ja auch durchzugreifen, dass man bei Polizisten, die ein solches Fehlverhalten an den Tag legen, schnell Anklage erhebt und die Beschuldigten auch dementsprechend hart bestraft. Aber das ist auch nur der erste Schritt. Was jetzt auch kommen muss, ist ein ernster Dialog mit allen beteiligten Gruppen, dass man den Reformmoment auch wirklich in die Tat umsetzt. Dazu gehören vertrauensbildende Maßnahmen wie zum Beispiel die Rückabwicklung der Militarisierung der Polizei, die seit den 1970er Jahren, als der «War on Drugs» einsetzte, fast ungebremst voranschritt.
Mischa Honeck ist promovierter Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für die Geschichte Westeuropas und der transatlantischen Beziehungen an der Humboldt Universität zu Berlin. Er lehrt und forscht zur Geschichte der USA im 19. und 20. Jahrhundert.
Nach dem gewaltsamen Tod von George Floyd kommt es in Dutzenden amerikanischen Städten zu friedlichen Protesten – aber auch schweren Ausschreitungen, Zerstörungsaktionen und Plünderungen. Mehr als 40 Städte haben eine nächtliche Ausgangssperre verhängt. Wie konnte die Situation so schnell eskalieren?
Man muss sich vergegenwärtigen, gerade aus der Sicht der Demonstranten, dass wir es mit einer Mehrfach-Krise zu tun haben. Es gibt, neben dieser Gerechtigkeits-Krise, auch noch die Corona-Krise, bei der man weiss, dass sie gerade Afroamerikaner und Latinos überproportional hart trifft. Und der dritte Aspekt ist die sich jetzt verschärfende Wirtschaftskrise, bei der die Ärmsten am stärksten betroffen sind. So hat sich eine Wut aufgestaut, die in ihrer Wucht viele überrascht hat, aber vielleicht gar nicht so erstaunlich ist.
Wer sind diese Menschen, die Autos und Gebäude in Brand stecken, Läden plündern und sich mit der Polizei Strassenschlachten liefern?
Es gibt noch keine harten Fakten dazu, aber diverse Hypothesen. Überraschend ist ja, dass diese Protestbewegung in der Zwischenzeit extrem heterogen geworden ist, also auch im ethnischen Sinn. Es gibt viele weisse Jugendliche, die mitdemonstrieren und sich als Verbündete anbieten und den Antirassismus zu ihrer eigenen Sache machen. Aber es gibt Beobachtungen, dass sich unter die Protestierenden auch Menschen mischen, die mit dem Anliegen an sich gar nichts zu tun haben, aber aus eigenem politischen Kalkül Öl ins Feuer giessen und die Gewalt suchen, in der Hoffnung, man könne die Konfrontation noch verschärfen. Einige Rechtsextreme sprechen gar von ihrer Fantasie eines grossen Rassenkriegs, der durch die Ausschreitungen vom Zaun gerissen werden kann. Daneben hat das Urban Rioting in der afroamerikanischen Kultur auch eine politische Komponente, dass man sozusagen in den Plünderungen einen sozialrevolutionären Protest sieht. Also nach dem Motto «jetzt nehmen wir uns mal das, um uns so Gehör zu verschaffen» und so die eigene Ohnmacht über tiefsitzende Ungerechtigkeiten zum Ausdruck zu bringen. Martin Luther King Jr. hat es mal so gesagt: «A riot is the language of the unheard».
Welche Rolle spielt US-Präsident Trump? Wie macht er seinen Job als oberster Krisenmanager?
Ich denke, Trump entfernt sich mit seinem derzeitigen Agieren sehr weit weg von dem, was einen Präsidenten traditionell in Krisenzeiten ausmacht. Der Präsident der USA hat sich sonst immer auf die Fahne geschrieben, ein «Uniter in Chief» zu sein, jemand der das Land zusammenführt und Brücken baut, also eine Art integrative Kraft entfaltet, die das Land zusammenhält. Wenn man sich Donald Trumps tägliches Kommunikationsverhalten mal anschaut, hat man den Eindruck, dass das nicht das primäre Interesse des Präsidenten ist, sondern dass es ihm vielmehr darum geht, zu spalten und den eigenen Anhang zu mobilisieren. Also der Präsident eines bestimmten Amerikas zu sein und eben nicht eines Amerikas mit unterschiedlichen Interessen, Sorgen und Ängsten.
Donald Trump will die Unruhen notfalls auch militärisch stoppen. Darf er die Armee überhaupt im eigenen Land gegen US-Amerikaner einsetzen und was für ein Zeichen sendet er damit aus?
Das ist eine politisch motivierte Kampagne. Trump repräsentiert einen Politiker-Typus, der sehr stark auf performative Effekte setzt, also jemand, der ein bestimmtes Bild von sich kultiviert, das bei bestimmten Menschen Vertrauen weckt und Identifikation schafft. Aber zugleich bewegt er sich verfassungsrechtlich auf dünnem Eis. Gerade wenn es darum geht, auf die Armee zu setzen, beruft er sich auf ein altes Gesetz aus dem Jahr 1807. Dieses ermöglicht dem Präsidenten im Falle von heimischen Aufständen, das Militär in verschiedene Bundesstaaten schicken zu können. Aber das geht nur dann wirklich, wenn die Gouverneure ihn um Hilfe rufen. Da kann er nicht absolutistisch entscheiden. Die Voraussetzung ist, dass ein Notstand in einem Bundesstaat so gross ist, dass die örtlichen Behörden die Ordnung und Sicherheit gar nicht mehr gewährleisten können.
Amerika ist tief gespalten: Im August 2017 versammelten sich weisse Rassisten zu einer Grosskundgebung in Charlottesville im Bundesstaat Virgina. Der Aufmarsch der Ultrarechten eskalierte, als ein Auto in eine Gruppe von Gegendemonstranten raste. Daneben gibt es die Bewegung «Black Lives Matter». Und wir haben einen Präsidenten, dem es nicht gelingt, die Nation zu einen, sondern im Gegenteil mit seinen Äusserungen noch Öl ins Feuer giesst. Droht dem Land ein Bürgerkrieg?
Für mich ist das eine Schublade zu hoch gegriffen. Was natürlich droht und was wir auch sehen, ist eine Eskalation der politischen Gewalt. Es können Hotspots entstehen, wo es eben lokal zu Gewalt kommen kann, wo sich verfeindete Gruppen gegenüberstehen, die sich angesichts der leichten Verfügbarkeit von Waffen durchaus gefährlich werden können.
Was hat das für die Präsidentschaftswahlen im November für Folgen?
Ich denke schon, dass jetzt, aufgrund der Ereignisse der letzten Wochen, die Wahlkampfthemen sehr stark bestimmt werden von Fragen der sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheit, die der Rassismus immer schon und auch jetzt wieder verschärft. Aber natürlich auch, und das ist die grosse Hoffnung von Trump, dass es eine grosse Gruppe von Menschen gibt, die besonders beunruhigt sind von den Protestbewegungen und sich so etwas wie eine starke Hand erhoffen, die mal wirklich durchgreift. Und das ist ja gerade auch das Kalkül, seine Anhänger mobilisieren zu können. Das ist ein riskantes Spiel, das dazu führen kann, dass sich die Gegenseite radikalisiert und dann drohen eben genau diese Gewaltszenarien. Trump ist sicherlich nicht unverwundbar. Der Wahlkampf droht auf jeden Fall hässlich zu werden.
Wie kann die USA wieder zur Ruhe kommen? Wie sehen Sie die Zukunft des Landes?
Es wird sehr stark davon abhängen, wie die drei Krisen, separat oder verknüpft, bewältigt werden können. Also die Corona-Pandemie, die Wirtschaftskrise und die Frage der historischen Gerechtigkeit bezüglich der unbewältigten Folgen von Sklaverei und Segregation. Diese Faktoren werden darüber entscheiden, wie schnell oder langsam das Land innerlich wieder zur Ruhe kommen kann.