Ständiges Händewaschen oder Putzen, permanentes Kontrollieren von Haustür und Herd, häufiges Blinzeln, Hüsteln oder Räuspern – alles nur Rituale, Ticks oder ernsthafte Zwangsstörungen? Dr. Torsten Grüttert, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie sowie Chefarzt der Haku–Privatklinik Duisburg, verrät im Interview, wie man Zwänge von Ticks unterscheiden kann und welche Behandlungsmöglichkeiten es gibt.
Was genau ist eine Zwangsstörung und welche Symptome sind klassisch dafür?
Dr. Torsten Grüttert: Zwangsstörungen können sich hinter vielen alltäglichen «Routine–Tätigkeiten» verbergen. Expert*innen gehen davon aus, dass ca. zwei Prozent der Bevölkerung einmal in ihrem Leben von einer Zwangsstörung betroffen sind. Doch die Dunkelziffer dürfte weitaus höher liegen. Denn viele Menschen verschweigen immer noch aus Scham ihre Erkrankung. Obwohl sie meistens ihr Handeln selbst für sinnlos halten, sie oft sehr unter den Symptomen leiden, können sie es nicht unterbinden, ohne noch mehr zu leiden.
In den weitaus meisten Fällen treten erste Symptome einer Zwangsstörung vor dem achtzehnten Lebensjahr auf (oft Zwangshandlungen). Im jungen Erwachsenenalter wird dann oft erstmals die Diagnose einer Zwangsstörung gestellt. Über die konkreten Ursachen ist sich die Forschung noch weitgehend im Unklaren. Als wesentliche Risikofaktoren gelten unter anderem ein rigider, überstrenger Erziehungsstil, Perfektionismus oder unbewusste Konflikte. Höchstwahrscheinlich ist aber ein Zusammenspiel aus genetischer Veranlagung, neurobiologischen Faktoren sowie Einflüssen der Umwelt entscheidend bei der Entstehung.
Wie sieht es wiederum bei Ticks aus?
Grüttert: Augenrollen, Blinzeln, Hüsteln, Räuspern, Kopfschütteln: Ticks, auch Tics geschrieben, äussern sich durch unterschiedliche willkürliche Bewegungen oder Handlungen. Unterschieden wird zwischen motorischen und vokalen Ticks. Diese sind von den Betroffenen weder kontrollier- noch steuerbar.
Im Gegensatz zu Zwangsstörungen treten Ticks meist das erste Mal im Kindes- oder Jugendalter auf – gelegentlich auch als Folge anderer Erkrankungen. Eine entscheidende Rolle bei der Entstehung scheint nach heutigen Erkenntnissen neben einer genetischen Veranlagung ein Dopamin-Überschuss zu spielen. Stress und Anspannung fördern die Entstehung.
Eine häufige Ticstörung im Erwachsenenalter ist das Tourette–Syndrom, bei dem Betroffene komplexe motorische und vokale Tics zeigen, das heisst zum Beispiel unkontrolliert Schimpfwörter oder Laute äussern oder Zucken, Aufstampfen oder komplexe Gesten zeigen.
Wie unterscheiden sich Ticks von einer Zwangsstörung?
Grüttert: Ticks sind unbewusste Verhaltensstörungen ohne erkennbaren Zweck. Sie passieren subjektiv unwillkürlich und sind für den Betroffenen bedeutungslos. Oftmals werden diese auffälligen Bewegungen oder Laute von anderen als Marotten oder Spleens belächelt. Zwangsgedanken und Zwangshandlungen sind gewöhnlich mit Vermeidungsverhalten verbunden: Ängste und Anspannung, die durch Reize wie Schmutz oder Unordnung ausgelöst werden, sollen vermieden werden. Zwangshandlungen werden oft nach einem ritualisierten Plan durchgeführt und dienen dazu, ein Gefühl von «Vollständigkeit» zu bekommen.
Kann man beides therapeutisch behandeln lassen?
Grüttert: Bei Zwangsstörungen empfiehlt sich ein auf die Symptome abgestimmtes multimodales Behandlungskonzept. Bewährt haben sich insbesondere verhaltenstherapeutische Massnahmen, bei denen sich der Patient oder die Patientin im Wesentlichen mit den Triggern seiner psychischen Störung, den Symptomen und seinem Vermeidungsverhalten auseinandersetzt. Ziel ist es, unangenehme Gefühle und Zwangsbefürchtungen besser zu verstehen, auszuhalten und durch nachweislich wirksame therapeutische Strategien zu bewältigen oder zu verringern. Eine leitliniengerechte medikamentöse Therapie kann neben der verhaltenstherapeutischen Intervention auch sehr sinnvoll sein.
Ticks sind nicht selten eine vorübergehende Störung, die nach ein paar Wochen oder Monaten von selbst wieder verschwindet. Um Erkrankungen auszuschliessen, ist ein Arztbesuch – beispielsweise beim Kinderarzt – dennoch sehr empfehlenswert. Gegebenenfalls ist dann eine symptomatische Behandlung nach Leitlinien der Fachgesellschaften angezeigt.
Wann sollte man sich denn in Behandlung begeben?
Grüttert: Längst nicht jede stets wiederkehrende oder anscheinend übertriebene Handlung weist auf eine behandlungsbedürftige Zwanghaftigkeit hin. Nicht selten verbirgt sich etwa hinter der ständigen Kontrolle, ob der Herd abgestellt oder die Haustüre geschlossen ist, schlicht der Wunsch nach Sicherheit.
Problematisch und behandlungsbedürftig wird es besonders, wenn die Handlungen als quälend empfunden werden oder aufgrund ihres Ausmasses das tägliche Leben von einem selbst und möglicherweise der Familie erheblich beeinträchtigen. Auch wenn der Versuch der Unterdrückung dieser Gedanken oder Handlungen Ängste und Anspannung auslöst, ist professionelle Unterstützung sehr wahrscheinlich erforderlich.
Inwieweit kann einen eine Zwangsstörung psychisch belasten?
Grüttert: Menschen mit Zwangsstörungen leiden erheblich. Trotz aller Anstrengungen sind sie kaum in der Lage, die irrationalen, sinnlosen und sich permanent wiederholenden Handlungen oder Vorstellungen zu unterbinden oder zumindest zu ignorieren – und wenn doch, so höchstens mit einem Gefühl der Angst und Anspannung. Immer und immer wieder verspüren sie den inneren Druck, dieselbe ungewollte Handlung auszuführen. Dies kostet Nerven und Energie. Oft flüchten sie sich aus Scham und Angst in eine Isolation, statt sich professionelle Hilfe zu suchen.
Wie schafft man es, Ticks und Zwangsstörungen zu überwinden?
Grüttert: Ob Tick oder Zwangsstörung: Hilfreich sind die Minimierung von Stresssituationen sowie regelmässige Entspannungsübungen wie etwa die Progressive Muskelrelaxation. Bei Ticks von Kindern und Jugendlichen bewirken Eltern am meisten durch Geduld und Stressabbau.
Bei Zwangsstörungen helfen multimodale Behandlungskonzepte Betroffenen, dem Zwang entgegenzuwirken und mit Unsicherheiten zu leben. Empfehlenswert ist es, Angehörige in die Behandlungsstrategie einzubeziehen. Zudem können Selbsthilfe-Gruppen den Behandlungserfolg fördern.
Welche Tipps haben Sie für Betroffene?
Grüttert: Eltern sollten nach fachlicher Beratung dem Tick ihrer Kinder gegebenenfalls weniger Beachtung schenken und keinesfalls versuchen, dagegen erzieherisch anzugehen. Das erzeugt nur Druck und verschärft eventuell die Beschwerden. Praktische Strategien können den Kindern helfen, Angst und Stress zu reduzieren – beides auch wichtige Massnahmen in der Bekämpfung von Zwangsstörungen. Das Aufsuchen eines Experten oder einer Expertin kann in beiden Fällen zur Aufklärung, zur Information, zur Beantwortung von Fragen und ggf. Anbahnung einer Therapie sehr sinnvoll sein.
Wer vermutet, unter einer Zwangsstörung zu leiden, kann das mit folgenden Fragen überprüfen: Haben Sie das Gefühl, oftmals bestimmte «Dinge» mehrfach kontrollieren zu müssen? Waschen oder putzen Sie sehr häufig und lange? Haben Sie oft sich aufdrängende Gedanken, die Sie trotz vieler Bemühungen nicht loslassen? Empfinden Sie Ihre Handlungen selbst oft als sinnlos oder halten Sie diese für übertrieben?
Ist die Antwort bei einer Frage (oder sogar mehreren) ein «Ja» und man hat bereits erfolglos dagegen angekämpft, so könnte eine Zwangsstörung vorliegen. Dies ist aber nur ein Anhaltspunkt. Ob wirklich eine Zwangshaltung besteht, kann definitiv nur das therapeutische Gespräch klären.