«Leider ist den Menschen bis heute nicht klar, was Zustimmung bedeutet. Ich wurde vor meinen Zwanzigern zweimal vergewaltigt.» Das schreibt das Schweizer Model Anja Leuenberger in ihrem neuen Buch, das sie gerade auf Instagram ankündigt. Bei ihrer ersten Horror-Erfahrung war Anja gerade fünfzehn und wohnte noch in der Schweiz. Der Übergriff geschah in einem Zürcher Club. Denn auch hier bei uns ist das Vergehen alles andere als Seltenheit. Die Verurteilung der Täter leider schon. Dabei spielt das Schweizer Gesetz eine grosse Rolle. Denn das macht es für Übergriffige zur Leichtigkeit, ohne Strafe davon zu kommen.
Ein «Nein» reicht nicht aus
Das fängt schon bei den Voraussetzungen für sexuelle Nötigung an. Im Gesetzbuch steht: «Wer eine Person zur Duldung einer beischlafsähnlichen oder einer anderen sexuellen Handlung nötigt, namentlich indem er sie bedroht, Gewalt anwendet, sie unter psychischen Druck setzt oder zum Widerstand unfähig macht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren oder Geldstrafe bestraft.» Geht es um Vergewaltigung, muss man zusätzlich weiblich sein und einen Penis in die Vagina eingeführt bekommen. Das klingt nicht nur bescheuert, es bringt auch mit sich, dass sämtliche Männer und Diverse per Gesetz überhaupt nicht vergewaltigt werden können. Erzwungener Anal- oder Oralsex sind zusätzlich bei allen Menschen im höchsten Fall sexuelle Nötigung. Hier, wie auch bei Vergewaltigung gilt: Wenn sich der Täter über ein «Nein» des Opfers hinwegsetzt, aber kein Nötigungsmittel wie Gewalt oder Drohung anwendet, läuft er auch keine Gefahr, bestraft zu werden. Werden wir aus Angst oder Schock unfähig, uns zu wehren oder versuchen wir nicht mehr, als den Sex mit einem ausdrücklichen «Nein» zu verhindern, findet vor dem Gesetz auch keine Vergewaltigung statt: Tja, Pech gehabt.
Wenig Aussicht, wenige Versuche
Weiss man das, ist es kaum noch verwunderlich, dass nur die wenigsten Opfer Strafanzeige stellen. Auch Anja Leuenberger ging nicht zur Polizei. Eine Untersuchung des Meinungsforschungsinstituts GFS Bern fand heraus, dass gerade einmal 8 Prozent anders handeln. Dabei haben 22 Prozent – also mehr als jede fünfte Frau in der Schweiz – bereits ungewollte Erfahrungen mit sexuellen Handlungen hinter sich. 12 Prozent geben an, bereits Sex gegen ihren Willen gehabt zu haben. Das entspricht, hochgerechnet ungefähr 430’000 Frauen in der Schweiz. Das sind mehr, als die Stadt Zürich Einwohner hat. 626 Fälle davon wurden im Jahr 2018 angezeigt. Viele endeten jedoch mit Freisprüchen.
Kämpfen für Veränderung
Es braucht keinen Experten, um zu sehen: Damit sich etwas tut, muss eine Reform des Sexualstrafrechts her. Dafür sprachen sich Mitte letzten Jahres 22 Strafrechtsprofessor*innen aus der ganzen Schweiz in einem offenen Brief aus. Amnesty International sammelte 37’000 Unterschriften. Und immerhin: Der Bundesrat plant, die Tatbestände geschlechtsneutral umzuformulieren und auch «beischlafsähnliche Handlungen» (also auch Anal- und Oralverkehr) als Vergewaltigung gelten zu lassen. Darauf schonmal ein Hurra.
Daran, aus einem «Nein» endlich ein aussagekräftiges Wort zu machen, denken die hohen Tiere der Politik hierzulande bislang nicht. Dabei sieht die Istanbul-Konvention, die 2018 in der Schweiz in Kraft getreten ist, es genau so vor. Was also spricht dagegen? Man fürchtet eine Umkehr der Beweislast, findet das Thema zu sensibel, um so «grob» vorzugehen, fürchtet, dass strafrechtliche Prinzipien über den Haufen geworfen werden. Komisch nur, dass es in Deutschland, Zypern, Belgien, Island, Irland, Luxemburg, Schweden und im Vereinigten Königreich nicht zu Zusammenbrüchen des gesamten Systems gekommen ist – hier greift die Konvention nämlich bereits. Für den Bundesrat reicht das offenbar noch nicht. Zumindest beweist es aber, dass der Kampf gegen veraltete Gesetze nicht aussichtslos ist. Aufgeben? Sollte für uns ab sofort keine Option mehr sein.