Ein Freund von mir hat bald ein Date mit einer Fremden. Er sah sie jeweils auf dem Weg zur Arbeit, morgens um sieben Uhr am Bahnhof. Jedes Mal war er hin und weg von der unbekannten Schönheit. Und letzte Woche sprach er sie endlich an. Um sieben Uhr morgens. Am Bahnhof. Sie nahm ihre Stöpsel aus dem Ohr, er fragte mutig nach ihrer Handynummer. Nach kurzem Zweifeln tippte sie die bereitwillig in seine Kontaktliste ein und verschwand dann wieder im Pendlerverkehr. Jetzt steht das erste Date vor der Tür.
Zugegeben: Wenn aus den beiden etwas wird, ist das 'ne hollywoodreife Love-Story. Was mich aber besonders beeindruckt, ist der Mut meines Freundes. Schliesslich sagen wir den Leuten in unserem Umfeld – geschweige denn einer wildfremden Person – nicht alle Tage, dass wir sie toll finden. Lieber denken wir stillschweigend über das Gegenüber nach. Positiv und, oder negativ. Dabei könnte unser aller Leben wesentlich unkomplizierter verlaufen, wenn wir von der ersten Sekunde an offener, ehrlicher und direkter wären.
Komplimente sind übrigens for free
Wie viele Male habe ich mich schon dabei erwischt, wie ich das perfekt koordinierte Outfit einer Unbekannten bewundert habe. Doch statt auf sie zuzugehen und ihr geradeaus ins Gesicht ein Kompliment zu machen, blieben die netten Gedanken unausgesprochen. Und wahrscheinlich hab ich die Gute dabei so lange angestarrt, dass ich sie schlussendlich sogar eher verunsichert habe. Ach, wenn du wüsstest, liebe Unbekannte.
Aber mal ehrlich: Wir denken viel darüber nach, was andere von uns halten. Heisst: Jeder würde manchmal gerne wissen, was den Leuten gerade so durch die Birne schiesst. Also sollten wir das einander doch einfach sagen. Logisch. Eigentlich. Aber die Angst vor einer unangenehmen Reaktion bremst. Genau wie der Neid: Nicht jeder kann und will zugeben, dass «Becky with the Good Hair» heute wirklich eine bombastische Mähne hat, während man selbst mit tiefschwarzen Schatten unter den Augen und struppiger Frisur am Bürotisch hockt. Dabei wäre es so simpel: «Becky, du siehst heute toll aus.» Das ist alles. Geht runter wie Öl. Und hat nebst eines Funkens Überwindung noch nicht mal was gekostet.
Nicht verweilen, Körbe verteilen … und annehmen
Dasselbe gilt andersrum. Nicht nur Gutes, auch Schlechtes kann man offen kommunizieren. Beispielsweise verdient es ein Typ zu wissen, dass er uns auch nach dem zweiten Date nicht umhaut. Statt uns also tagelang den Kopf zu zerbrechen, sollten wir lieber direkt zur Sache kommen (nein, nicht so). Wenn ihr keine Lust mehr habt, dann sagt ihm das nett, aber straight ins Gesicht und haltet euch nicht mit irgendwelchen Psycho-Spielchen via Whatsapp auf. Wenn nämlich alle Beteiligten wissen, woran sie sind, spart man Energie, verhindert unnötiges Drama und verschwendet weder die eigene, noch die Zeit des anderen.
Übrigens kann man sich danach ganz entspannt auf was Neues einlassen. Und wenn ihr das nächste Objekt der Begierde schon von Weitem am Bahnhof erspäht, geht doch einfach hin und sprecht ihn oder sie ganz ungeniert an. Im Worst Case kriegt ihr ein «sorry, kein Interesse» hingeklatscht. Und so schlimm ist das nun wirklich nicht. Wer Körbe verteilt, der kann auch welche einstecken, oder?
Die Formel zur Direktheit
Zusammengefasst: Wir sollten uns alle so verhalten, wie betrunkene Frauen auf der Damentoilette. Da überhäuft man einander mit Komplimenten, posiert powerful vor dem Spiegel rum, fällt sich schluchzend in die Arme und gibt unverschämt ehrliche Ratschläge. Und das, obwohl man sich (meistens) noch nie zuvor gesehen hat.
Nehmen wir also die Ehrlichkeit der betrunkenen Ladies, subtrahieren Angst und Neid, addieren etwas Mut und Bingo – so unkompliziert könnte das Leben sein. Und was das noch ausstehende Date meines Freundes angeht: I'll keep you updated.
Habt ihr schon mal einer fremden Person ein Kompliment gemacht oder aus heiterem Himmel eins bekommen? Lasst es uns in den Kommentaren wissen.