Stellen wir uns folgendes Szenario vor: Wir sind eine zweifache Mutter. Im Lockdown versuchen wir mit wackeligen Beinen den Spagat zwischen Haushalt und Home Office hinzukriegen, unser anspruchsvoller Partner hat mit Existenz und Elend zu kämpfen. Die Geduld? Am Ende. Die Stimmung? Angespannt. Die Ehe? Nervenaufreibend. Streitereien werden häufiger, lauter, aggressiver. Und dann springt ein kleiner Funke in die falsche Richtung und trifft die Spitze des Eisberges. Es knallt. Und plötzlich entwickeln sich die eigenen vier Wände zur Gefahrenzone. Häusliche Gewalt.
Toxische Männlichkeit kann häusliche Gewalt hervorrufen
Besonders während der Pandemie werden schwierige Arbeitsverhältnisse und erhöhter Konkurrenzdruck zu Hause bemerkbar. Das Konfliktpotenzial steigt, denn auch die Rollenverteilung im Haushalt wird durcheinandergebracht. Das wird vor allem bei jenen Männern zum Problem, die sich noch immer als Brötchenverdiener, Ernährer und Familienoberhaupt sehen. Es ist ein veraltetes Bild der Geschlechterrollen: Männer sollen dominant und erfolgreich sein, niemals Schwäche zeigen. Solche starren Vorstellungen schränken Männer ein und sind belastend. Diese toxische Männlichkeit zwingt aber nicht nur Männer, sondern auch deren Partner*in in Schwierigkeiten.
Glücklicherweise gibt es für Opfer häuslicher Gewalt kantonale Hilfestellen. Sie bieten Schutz und informieren über die rechtlichen Möglichkeiten. Opferanwältin Caterina Nägeli erklärt: «Opfer von häuslicher Gewalt können im Rahmen eines Strafverfahrens, eines Opferhilfeverfahrens oder eines Zivilverfahrens Schadenersatz und Genugtuung (Schmerzensgeld) beantragen.» Doch der Weg dahin ist oft nicht so einfach.
Der Druck führt zum Rückzug
Als Kläger*in muss man (bis anhin) die Gerichtskosten vorschiessen. Deshalb fürchten Betroffene die finanziellen Konsequenzen eines Prozesses. «Das hält viele Opfer häuslicher Gewalt davon ab, überhaupt erst einen Prozess einzuleiten», erklärt Nägeli.
Häufig ist aber nicht (nur) das Geld eine Hürde, sondern auch der psychische Druck. Betroffene möchten ihre gewalttätigen Partner*innen oft nicht verlassen. Aus Liebe, oder auch aus Angst davor, dass eine Trennung zu noch mehr Gewalt oder gar einer Tötung führen könnte. In der Schweiz kam es 2019 zu ganzen 29 Tötungsdelikten innerhalb einer Partner- oder Verwandtschaft (Quelle: Bundesamt für Statistik).
Unter dem Druck des Täters entscheiden sich viele Opfer dazu, das Verfahren entweder gar nicht erst einzuleiten, oder es nach kurzer Zeit abzubrechen. Sie ziehen den Strafantrag zurück und geben an, die Situation hätte sich wieder beruhigt. Der Täter kommt ungestraft davon. Das soll sich nun ändern.
Die Gesetzesänderung soll Opfer entlasten
Seit Mittwoch, dem 1. Juli 2020, sind einige Änderungen des Schweizer Zivil- und Strafrechts in Kraft getreten. Damit finanzielle Aspekte nicht länger eine Rolle spielen, werden den Opfern nun keine Gerichtskosten mehr verrechnet. Ausserdem entscheidet neu die Strafbehörde mit, ob ein Verfahren eingestellt wird. Ein Abbruch des Verfahrens basiert also nicht mehr ausschliesslich auf dem Willen des Opfers, sondern muss von der Behörde geprüft werden.
«Man erhofft sich, das Opfer so zu entlasten und zu verhindern, dass es von der beschuldigten Person unter Druck gesetzt wird»,
erklärt Ingrid Ryser, Informationschefin des Bundesamts für Justiz. Der Bundesrat wolle sich deshalb weiterhin für die Bekämpfung der häuslichen Gewalt und die Verbesserung der Situation für Opfer einsetzen. Jedoch meint Ryser: «Man muss sich bewusst sein, dass auch eine möglichst umfassende Prävention nicht alles verhindern kann.»
Ist trotz Corona alles noch mal gut gegangen?
Ingrid Ryser bringt es auf den Punkt. So hat der Bund aus Angst vor einer Zunahme der häuslichen Gewalt Ende März 2020 eine Taskforce einberufen, die die Situation der häuslichen Gewalt während des Corona-Lockdowns prüfen soll. Frauenhäuser erwarteten einen grossen Ansturm. Aber es kam anders.
Heute, nachdem bereits viele Lockerungen umgesetzt sind, steht auf der Website des Bundes: «Die Polizei hat zwar zeitliche und räumliche Schwankungen der Anzahl Meldungen wegen häuslicher Gewalt festgestellt. Ein schweizweiter Anstieg blieb jedoch aus. Auch die Mehrzahl der Opferhilfestellen in den Kantonen verzeichneten keine Zunahme der Beratungen wegen häuslicher Gewalt.» Klingt erst mal vielversprechend. Doch wenn man genauer hinschaut, wie es beispielsweise Susan Peter, Geschäftsführerin der Stiftung Frauenhaus Zürich, macht, entsprechen diese Aussagen leider nicht der Realität. Schuld ist – mal wieder – die Dunkelziffer.
24/7 unter Beobachtung
Momentan dürfte die Dunkelziffer von nicht-gemeldeten Fällen so hoch sein wie schon lange nicht mehr. Der Grund? Die Opfer von häuslicher Gewalt hatten keine Möglichkeit, sich unbemerkt Hilfe zu holen. Susan Peter erklärt:
«Weil der Partner rund um die Uhr in der Nähe war, konnten sich Betroffene während des Lockdowns nicht bei uns melden.»
Somit ist der Anstieg von häuslicher Gewalt in den Statistiken nicht erkennbar, denn die Opfer melden sich erst jetzt, im Nachhinein. Wie Susan Peter bestätigt und auch der Bund auf seiner Website schreibt, haben die Meldungen seit Mitte Mai bereits zugenommen. «Zahlen und Statistiken können erst in etwa einem Jahr erhoben werden, wenn alle aus dem Home Office raus sind und Betroffene mehr Raum haben, um Hilfe zu holen.»
Ein Ansturm auf Frauenhäuser macht Peter allerdings Sorgen: «Laut den EU-Richtlinien müsste die Schweiz 800 Plätze in Frauenhäusern anbieten, doch zurzeit gibt es nur etwa 400.» In gewissen Kantonen steht gar kein einziges Frauenhaus zur Verfügung. «Es drängt sich die Frage auf, ob und von wem zusätzliche Unterkünfte organisiert werden könnten.»
Wichtig ist Susan Peter jedoch, dass sich Opfer überhaupt erst irgendwo melden. Besonders mit der neuen, entlastenden Gesetzesänderung und den Corona-Lockerungen, sollten Betroffene die Opferhilfestellen kontaktieren. Und vor allem: reden.