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Corona-Pandemie verstärkt Notlage

«Armut in der Schweiz ist ein Tabuthema»

Mit ihrer Stiftung DEAR Foundation Solidarité Suisse hilft die Baslerin Sonja Dinner, 58, jenen Menschen, die durch die Corona-Krise in Not geraten sind. Dabei kämpft sie auch gegen die Tabuisierung dieses Themas.

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Sonja Dinner, 2020

Lächeln trotz Krise: Dinner in ihrem Büro in Affoltern am Albis ZH: «Corona hat die Lage massiv verschärft.»

Remy Steiner Photography

Frau Dinner, wie sieht Armut in der Schweiz aus?
Das sind Menschen mit tiefem Einkommen; Menschen, die nicht nur von einem Job leben können. Wir sprechen von Leuten, die am Rande des Existenzminimums leben: 1200 Franken pro Monat. Das ist selbst in normalen Zeiten zu wenig. Wir sehen das Gesicht der Armut ganz deutlich bei den Empfängern unserer Unterstützungsbeiträge – etwa in Gassenküchen oder Frauenhäusern.

Doch das Thema wird tabuisiert …
… absolut. Aber ich stufe dies als masslose Arroganz von uns ein. Es ist sehr überheblich, wenn man behauptet, dass es in der Schweiz keine Armut gibt – weil es nicht stimmt. Denn sie ist einfach nicht so sichtbar. Und weil die Armut ein Tabuthema ist, schämen sich die Betroffenen zum Teil, Hilfe anzufordern und anzunehmen. Sie verstecken sich.

Wie macht sich dies bemerkbar?
Die Menschen stehen heimlich an, wenn es um die Ausgabe von Lebensmitteln geht oder um eine Mahlzeit in der Gassenküche. Viele versuchen krampfhaft, das Bild der heilen Welt und einer bürgerlichen Existenz gegen aussen aufrechtzuerhalten, selbst wenn es bei Weitem nicht mehr gegeben ist.

Es gibt also nicht nur die Obdachlosen auf der Strasse?
Nein. Es gibt viele arme Menschen, die noch in einer Wohnung leben, solange sie die Kündigung nicht erhalten haben. Aber wenn man sich in diesen Wohnungen umschaut, ist alles auf Pump gekauft. Diese Menschen können die Schulden nicht mehr bedienen. So gesehen ist unsere Wohlstandsgesellschaft für gewisse Leute eine Falle: einerseits weil sie denken, sie müssen auch haben, was man bei anderen sieht; andererseits weil man es unbedingt haben will und es leicht finanzierbar ist.

Mit Ihrer Stiftung leisten Sie unkomplizierte Soforthilfe. Wie gehen Sie konkret vor?
Wir wenden uns an Organisationen und Verbände, die für Unterstützungszahlungen infrage kommen. Es gibt etwa eine Organisation von allerziehenden Vätern und Müttern. Oder verschiedene Behindertenverbände. Wir müssen über derartige Organisationen gehen. Denn die Einzelfälle können wir nicht abhandeln – alleine von der Menge her nicht. So haben wir verschiedene Modelle für gewisse Berufsgruppen aufgebaut, die ganz besonders betroffen sind.

Von welchen Berufsgruppen sprechen Sie?
Zum Beispiel von Marktfahrern und Schaustellern. Das ist eine Berufsgruppe, die von uns bereits Hilfe erhalten hat. Daneben sind wir mit dem Roten Kreuz daran, eine Pflegeausbildung zu organisieren oder sie so zu modifizieren, dass es für Menschen über 50 Jahren passt: damit sie das medizinische Personal in den Spitälern und Kliniken entlasten können, und zwar mit nicht medizinischen Leistungen. Wir vermitteln auf diese Weise Tausenden von gekündigten Menschen das Gefühl, dass sie gebraucht werden.

Sonja Dinner

Die 58-jährige Baslerin war bis 2001 eine erfolgreiche IT-Unternehmerin mit 30 Mitarbeitenden. Dann entschloss sie sich zum Frontenwechsel und gründete eine Stiftung (DEAR Foundation), die sich vor allem für Kinder und Frauen in der armen Welt einsetzt. Sie ist verheiratet und lebt in Rudolfstetten AG und in Norddeutschland.

Sonja Dinner, 2020

Der Schein trügt: Dinner hat keine Zeit, die Beine hochzulagern: Sie arbeitet für die Stiftung 60 Stunden pro Woche.

Remy Steiner Photography

«Dort, wo die staatliche Hilfe nicht mehr reicht, greifen wir ein»

Sonja Dinner

Wie gross ist die Bereitschaft in der Schweiz, für Schweizer zu spenden?
Menschen spenden, wenn sie bereit sind, sich mit der anderen Seite des Lebens zu befassen. Das gilt sowohl für die Superwohlhabenden wie auch für die normalen Bürger, die uns mit 500 oder 1000 oder 2000 Franken unterstützen. Aber wir brauchen grosse Beträge. Denn wir wollen Grosses bewirken. Zum Beispiel möchten wir gemeinsam mit dem Schweizerischen Nutzfahrzeugverband ASTAG dringend benötigte Chauffeure ausbilden. Und da fallen pro Person Kosten in der Höhe von 20'000 bis 30'000 Franken an. Hier streben wir auch eine Zusammenarbeit mit den RAVs an. Wir wollen eigentlich nur ergänzende Beiträge liefern – dort, wo der Staat nicht mehr kann, aber die Menschen gleichwohl noch in Not sind und arbeiten wollen. Wir sind komplementär zum Staat. Dort, wo die staatliche Hilfe nicht mehr reicht, greifen wir ein.

Man hört auch von Betrügern und Corona-Profiteuren. Wie kontrollieren Sie?
Wir haben ganz klare Auflagen, wann und bei wem wir Unterstützung leisten. Es kann nicht sein, dass jemand mit zwei Millionen Franken Vermögen den Job verliert und dann von uns Geld verlangt. Wir fragen nach den Vermögensverhältnissen – und danach, ob eine Firma die staatlichen Unterstützungsgelder bezogen hat. Wenn wir einem Unternehmen helfen, ist dies an die Bedingung geknüpft, dass keine Boni und Tantiemen ausbezahlt werden. Und wenn wir Unternehmen helfen, müssen dort auch die Löhne der Geschäftsleitung reduziert werden. Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Eine Firma mit 200 Mitarbeitern und einer Geschäftsleitung von fünf Personen, die Gesamtlohnkosten von 1,2 Millionen Franken ausweist, muss die Löhne der Führungsequipe um 25 Prozent reduzieren – sonst gibts von uns keine Unterstützung.

Diese Forderung stellen Sie?
Selbstverständlich. Das ist die Bedingung, dass wir helfen. Die Auflagen sind branchenabhängig. In gewissen Branchen bestehen hohe Margen – und dort konnte sich die Geschäftsleitung überproportional hohe Löhne geben. Hingegen gibt es Detaillisten aus dem Computer- und Elektronikbereich, wo die Margen hauchdünn sind. Unsere Philosophie ist, dass die Solidarität überall spielt – zwischen den Branchen, aber auch innerhalb der Unternehmen. Ein Unternehmen, das von uns Geld erhält, muss Lehrstellen schaffen, die es sonst nicht schaffen würde. Die Lehrlinge, die dadurch eine Stelle erhalten, müssen einen halben Tag pro Monat Sozialdienst leisten.

Wie unterscheidet sich die Entwicklungshilfe in der Schweiz von derjenigen im Ausland?
Dadurch, dass wir in der Schweiz Sozialwerke haben, die es im Ausland nicht gibt. Und dass wir viel besser kontrollieren können, was mit den Geldern geschieht. Wenn wir in der Lage sind, Mikrokredite auf den Philippinen oder in einem afrikanischen Land auszubezahlen, sind wir fast selbstverständlich in der Lage, in der Schweiz Menschen zur Arbeit zurückzubringen – wenn sie arbeiten wollen. Wenn jemand partout nicht arbeiten und die Sozialwerke ausnutzen will, sind auch wir am Ende. Aber solche Menschen unterstützen wir nicht.

«Solidarität» ist wohl das Wort des Jahres. Spüren Sie diese Solidarität wirklich?
Ja. Die Leute, die sich auf ein Gespräch einlassen, und solche, die sich über Zeitungen und die Medien informieren, zeigen diese Solidarität. Aber es gibt auch eine Klasse von Menschen, die davon nichts wissen will.

Wen meinen Sie?
Es geht dabei nicht um eine Einkommensklasse. Viel mehr sind es jene Menschen, die irgendwie abgehoben sind, in ihrer Plüschwelt leben und auf keinen Fall mit der Realität konfrontiert werden wollen. Aber es gibt ganz viele Superwohlhabende, die extrem solidarisch sind. Eine grosse Enttäuschung für uns war, dass das Parlament unseren Vorschlag abgeschmettert hat, dass die Deckelung für Spenden in der Schweiz während zwei Jahren aufgehoben wird, wonach man zwischen 10 und 20 Prozent des Vermögens steuerfrei spenden kann. Mit Bundesrat Ueli Maurer waren wir uns schon einig. Und wir hatten grosse Zusagen von Spenden für den Fall, dass diese Beschränkung fällt. Ein Spender hat uns 50 Millionen zugesagt, wenn er steuerfrei hätte spenden können. Nun ging uns dieses Geld verloren.

Was raten Sie Stellensuchenden?
Ich rate jedem jungen Menschen, in seine Ausbildung zu investieren. Bildung ist das Einzige, was man niemandem wegnehmen kann. Das gilt in der armen Welt, aber auch in der Schweiz. Bildung ist das wertebeständigste Kapital, das man haben kann. Und dann gibt es Branchen, die zukunftsträchtig sind – beispielsweise die IT.

Aber die junge Generation kennt das Gefühl der Krise nicht. Es ging ständig aufwärts …
… es wurde immer besser und mehr. Unsere Eltern kannten das andere Gefühl. Sie mussten sich nach dem Zweiten Weltkrieg eine neue Existenz erarbeiten. Irgendwann konnten sie sich das erste Radio oder einen Fernsehapparat leisten. Das waren Highlights. Zuletzt lief das Wohlstandsverhalten aber aus dem Ruder – es wurde ad absurdum geführt. Wenn man immer das neuste Handy haben muss, obwohl das alte noch tadellos funktioniert, ist dies unsinnig. Wir müssen unsere Wertvorstellungen ändern und weniger und bewusster konsumieren und produzieren. Ich rufe die Menschen auf, nachhaltige Labels zu verwenden.

Haben Sie mit Ihrer Stiftung ein Zeitfenster?
Nein, die Stiftung ist unbefristet tätig. Der Stiftungszweck ist nicht Corona, sondern Pandemien und Naturkatastrophen. Wenn wieder einmal eine Katastrophe wie in Gondo passieren sollte und der Staat nicht helfen kann, könnten wir einspringen. Und je mehr Mittel wir haben, desto effizienter und länger können wir helfen. Deshalb bitte ich auch an dieser Stelle alle Menschen, die in der Schweiz leben, grosszügig zu spenden. Helfen Sie, den sozialen Frieden zu wahren – für unsere Kinder. Helfen Sie, Arm und Reich näher zusammenzubringen. Wir sind alle ein Volk.

 

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Von Thomas Renggli am 19. Oktober 2020 - 16:13 Uhr