Indien ringt nach Luft! In vielen Spitälern ist der Sauerstoff aufgebraucht. Männer und Frauen ersticken an den leeren Beatmungsgeräten – während vor den Toren der überlasteten Krankenhäuser bereits Dutzende röchelnde Patienten auf ein freies Bett warten. Vor dem Lok Nayak Hospital, Delhis grösstem Covid-Zentrum, müssen Sicherheitsleute Menschen wegschicken: Es hat wirklich keinen Platz mehr!
Die zweite Welle des Coronavirus wütet derzeit in Indien, ungebremst. Vor den Krematorien stehen Krankenwagen, Autos und Rikschas mit Dutzenden Leichen Schlange. Arbeiter türmen auf den Parkplätzen Holz und Pneus zu Scheiterhaufen. Angehörige warten in Schutzanzügen darauf, ihre verstorbenen Liebsten verbrennen zu dürfen. Nach dem Glauben der Hindus können die Seelen der Toten so zum Himmel emporsteigen. In den Gesichtern der Hinterbliebenen bleiben nur Trauer und Verzweiflung zurück.
Das Schlimmste kommt erst noch
Anfang Mai erreicht die Katastrophe einen traurigen Höhepunkt: 3689 Menschen sterben nach Angaben des Gesundheitsministeriums am ersten Sonntag des Monats. Jeden Tag stecken sich über 400 000 Menschen in Indien mit dem Virus an, fast die Hälfte aller Covid-19-Neuinfektionen weltweit. Und Experten warnen: Das Schlimmste kommt erst noch!
«Vorgestern schrieb mir ein Freund, dessen Vater und Onkel bereits tot sind. Seine Mutter liege nun auch im Sterben», sagt EVP-Nationalrat Nik Gugger, 51, aus Winterthur. Täglich ist er in Kontakt mit Freunden und Bekannten aus Indien. Er selber ist dort geboren. Seine Mutter, eine Witwe, brachte den Jungen in einem Spital in der Stadt Udupi im Südwesten des Landes zur Welt. Genau in dem Krankenhaus, in dem Fritz Gugger und seine Frau Elisabeth, die damals für das Hilfswerk Heks im 300 Kilometer entfernten Thalassery Lehrlinge ausbildeten, für einen Gesundheitscheck waren. Eine deutsche Krankenschwester erzählt dem Schweizer Paar vom Baby, dessen Mutter das Spital um fünf Uhr morgens verliess, mit der Bitte, man möge den besten Platz für den Jungen finden. Die Guggers adoptieren das Kind. «Sie waren für mich wie zwei Engel», erzählt der heutige Nationalrat.
Neue Heimat, alte Wurzeln
Vier Jahre später zieht die Familie zurück in die Schweiz. «Obwohl ich auf einem Bauernhof in Uetendorf BE aufwuchs, sorgten mein Vater und meine Mutter dafür, dass ich meine Wurzeln nie vergesse.» Als er ein Teenager ist, reist die Familie – inzwischen haben die Guggers noch zwei Töchter bekommen – in das Heimatland ihres Sohnes. In der Schweiz leitet der Vater von Nik Gugger ein Gehörlosenzentrum, später ein Altersheim. «Meine Eltern behandelten immer alle Menschen mit Empathie und Wertschätzung.» Das habe ihn geprägt, erzählt Gugger, der inzwischen selber dreifacher Vater ist. Bis heute setzt sich der Sozialunternehmer in Indien für arme Kinder und Studenten ein. Von der Uni in Odisha hat der Präsident der parlamentarischen Freundschaftsgruppe Schweiz-Indien einen Ehrendoktortitel für sein Engagement erhalten.
Sieht Nik Gugger die Bilder aus seiner alten Heimat, mache ihn das natürlich traurig. «Es hätte genauso gut mich treffen können», sagt er. Darum unterstützt er NetAsia, eine Freiwilligen-Kooperation, die bis heute mehr als 50 000 Franken für Indien sammelte. Und mithilfe der Firma Hamilton in Bonaduz GR will er zwei invasive Beatmungsgeräte für das medizinische Zentrum in Odisha beschaffen. «Es ist wichtig, dass wir nun schnell und unbürokratisch helfen.» Sein Engagement sei vielleicht nur ein Tropfen, sagt Gugger. «Aber viele Tropfen machen das Meer aus.»
Anfang dieses Jahres glaubt man in Indien noch, das Virus besiegt zu haben. Die Zahlen der ersten Welle sinken ab Herbst 2020 stetig. Das Leben erwacht wieder. Gläubige reisen scharenweise zu religiösen Festen, etwa zur Kumbh Mela am Ufer des Ganges – eine rituelle Badezeremonie –, und tragen so das Virus in alle Landesteile. In fünf Bundesstaaten finden zudem grosse Wahlveranstaltungen statt, wo die Menschen weder Abstand halten noch Maske tragen. Zu allem Unglück entwickelt sich auch noch eine Virusmutation, die Zahl neuer Infektionen steigt rasant. «Ich glaube, die Regierung hat die Situation total unterschätzt», sagt Nik Gugger. «Oder sie wollte sich vor den Wahlen nicht unbeliebt machen und die religiösen Feierlichkeiten absagen.»
Indien gilt als Apotheke der Welt. Nirgendwo wird mehr Impfstoff produziert. Doch aufgrund der katastrophalen Situation im eigenen Land wird dieser nun für die heimische Bevölkerung gebraucht, zudem kommt die Pharmaindustrie kaum nach mit der Produktion. Weil die indische Regierung nun die Exporte stoppen musste, warten die Ärmsten der Welt auf Nachschub. Besonders hart trifft dies Afrika. Länder wie Ghana und Ruanda haben bereits alle verfügbaren Impfstoffdosen aufgebraucht. Viele Menschen, die eine erste Impfung erhalten haben, wissen nun gar nicht, wann die zweite eintrifft.
Hoffnung für die Hoffnungslosen
Die Bilder aus Indien erschüttern die Welt. Die USA, Grossbritannien, die EU und China eilen zu Hilfe. Auch die Schweizer Glückskette sammelt Geld (siehe Box), und Aussenminister Ignazio Cassis kündigt auf Twitter an: «Wir versenden dringend benötigte Sauerstoffkonzentratoren und Beatmungsgeräte zur Unterstützung medizinischer Einrichtungen.» Der Bund stellt Hilfe im Umfang von einer Million Franken in Aussicht. Nik Gugger freut sich über das Engagement. «Die Hoffnungslosen brauchen Hoffnung.»
Hier können Sie spenden:
Glückskette Postkonto 10-15000-6
Vermerk «Coronavirus International»
www.glueckskette.ch