Aus dem Handy erklingt der «Chant des Partisans», das Lied, das schon die französischen Widerstandskämpfer im Zweiten Weltkrieg gesungen haben. Der Tessiner Dick Marty, 75, hat die Konzerninitiative mit lanciert. Sie fordert, dass Firmen mit Sitz in der Schweiz Menschenrechte und Umweltschutzstandards auch im Ausland einhalten. Marty kämpft für sein Anliegen. So wie er es in seiner Karriere gegen viele Mächtige tat.
Sie wirken wütend, wenn man Ihnen die Argumente von Bundesrätin Karin Keller-Sutter gegen Ihre Initiative vorlegt. Täuscht das?
Nein. Ihre Argumente versetzen mich in Rage. Eine Bundesrätin hat kein Recht, Unwahrheiten zu behaupten, geschweige denn unsere Haltung als neokolonialistisch zu bezeichnen. Und die Regierung, die im Abstimmungsbüchlein Tatsachen verdreht … Wo sind wir denn hier eigentlich? Das werden wir nicht zulassen.
Was kritisieren Sie genau?
Wenn Keller-Sutter behauptet, bei Annahme der Initiative wären wir das einzige Land mit einem derartigen Rechtsrahmen, weiss sie, dass das nicht stimmt. In Frankreich, Kanada, den Niederlanden und im Vereinigten Königreich gibt es Präzedenzfälle. Letzteres akzeptierte die Klage eines sambischen Dorfes gegen eine Firma mit Sitz in London, die mit Kupferminen das Flusswasser verschmutzte. Und das ist längst nicht alles.
Was meinen Sie damit?
Wenn die Bundesrätin angibt, unsere Gerichte würden bei einem Ja mit Beschwerden überschwemmt, weiss sie auch, dass das nicht stimmt. Zum einen, weil die Initiative keine Rückwirkung vorsieht, und zum anderen, weil die Anforderungen für eine zivilrechtliche Verantwortungsklage so hoch sind, dass nur symbolträchtige Fälle eingereicht würden. Die Kläger müssten unseren Richtern mit Gutachten und Beweisen darlegen, dass das Unternehmen einen Fehler beging, der einen Schaden ausgelöst hat. Ein langer und sehr teurer Prozess.
Kurios, dass Karin Keller-Sutter Mitglied der FDP ist – genau wie Sie!
Für mich sind Wahrheit und Gerechtigkeit wichtiger als Parteisolidarität. Das hindert einen zwar daran, Karriere in einer Partei zu machen, das war aber ohnehin nie meine Ambition.
Sie sind ein harter Kritiker.
Das glaube ich nicht. Ich stehe im Einklang mit meinen Werten. Ist es nicht logisch und gerecht, Unternehmen, die der Natur oder der Gesundheit schaden, zur Rechenschaft zu ziehen? Wir sind nicht gegen eine liberale Wirtschaft oder gegen den Bergbau. Wir fordern lediglich die Respektierung der lokalen Bevölkerung und Umgebung. Der Bundesrat tut so, als wüsste er nicht, dass Glencore im Kongo und Lafarge Holcim in Nigeria, um zwei Beispiele zu nennen, diese Grundwerte mit einer Schweizer Fahne in der Hand ignorieren. Wenn jemandem eine neokolonialistische Haltung unterstellt wird, dann besser nicht der falschen Seite.
Geboren in Sorengo TI, durchlief der heute 75-Jährige eine steile Karriere. Er amtete als Tessiner Staatsanwalt und war für die FDP Staats- und Ständerat. Als Abgeordneter des Europarats ermittelte er in spektakulären Kriminalfällen. Marty ist verheiratet und hat drei Töchter.
Der Bundesrat spricht von einer vage formulierten Initiative mit viel Interpretationsspielraum.
Da muss ich lachen. In der Verfassung stehen Artikel, die hundertmal vager sind. Der Bundesrat spricht von Selbstregulierung der Unternehmen. Jeder weiss, dass das nicht funktioniert. Das sahen wir etwa bei der Geldwäscherei. Es gibt immer schwarze Schafe, die Gesetze umgehen und ihre Macht ausspielen wollen.
Sind das nicht Unterstellungen?
Überhaupt nicht. Wie ist das Kräfteverhältnis zwischen einem börsenkotierten Unternehmen mit Billionen-Wert und einem Staat wie Kongo, Sambia, Bolivien oder Kolumbien? Unternehmen haben finanzielle Kapazität, die jene vieler – auch westlicher – Staaten überragt. Ein armes Land, in dem die Justiz nicht funktioniert, hat keine Chance gegen diese Giganten.
Der aktuelle Meinungstrend scheint recht günstig für Sie.
Es ist ein harter Abstimmungskampf mit Trump-Methoden – brutal, rücksichtslos. Und Wirtschaftsvertreter geben Millionen aus. Es wäre falsch, den Sieg auf sicher zu wähnen, auch wenn ich noch nie eine solche Einigkeit und Begeisterung für ein Vorhaben erlebt habe.
Was, wenn die Initiative abgelehnt wird?
Das wäre schlecht für das Image der Schweiz. Was auch immer das Resultat ist, es wird eine Zeit vor und nach dem 29. November geben. Eine derart grosse Mobilisierung wird Spuren hinterlassen.
Woher kommt Ihre Verpflichtung zum Dienst für die Gerechtigkeit?
Vielmehr sollten Sie jene fragen, die nicht so empfinden. Ich finde das ganz einfach nur natürlich. Ist das nicht die Grundlage eines guten Zusammenlebens?
Ruft es in Ihnen nach Revolte?
Nein, ich bin einfach entrüstet. Wenn Ungerechtigkeit nicht mehr entrüstet, schwimmt man nur noch wie ein toter Fisch im Strom. So würde ich mich jedenfalls fühlen. Der Kampf für eine gerechtere Welt ist es, der uns menschlich macht.
Trieb Sie dieses Gefühl schon als Kind an?
Niemand muss uns beibringen, was Recht und Unrecht ist, das ist uns angeboren. Nicht ich bin der Spezielle, sondern jene, denen dieses Gefühl fehlt. Ich staune immer wieder über das grosse Interesse an mir. Dabei habe ich nichts Aussergewöhnliches geleistet.
Vielleicht ist nicht jeder gleich mutig wie Sie.
Mut ist nichts anderes, als eine Entscheidung zu treffen, wenn es sie braucht.
«Die Initiative will Gerichtsverfahren über Vorfälle im Ausland in die Schweiz holen. Das missachtet die Souveränität anderer Staaten und kommt zudem einer Amerikanisierung unseres Systems gleich. Damit kann ich nichts anfangen.»
Hat die Gesellschaft ihre Werte verloren?
Manchmal denke ich das. Der Vergleich mag absurd erscheinen, aber ich hatte mein Leben lang Hunde. Ich habe sogar das Brevet als Lawinenhundeführer gemacht. Ich bemerkte, dass die Tiere das Gefühl der Gerechtigkeit kannten. So sehr, dass ich manchmal dachte, sie verhielten sich besser als wir Menschen.
Engagieren Sie sich auch im Namen Ihrer drei Töchter und acht Enkelkinder?
Nicht unbedingt. Jeder von uns ist aufgerufen, im Laufe seines Lebens Steinchen zu bewegen. Mit der Zeit versetzt man damit ganze Berge. Ich glaube nicht an Helden. Und Gott weiss, ich habe schon die «Grossen dieser Welt» getroffen – und kam jedes Mal enttäuscht zurück. Die Menschen, die mich am meisten beeindruckt, bewegt, berührt haben, sind ganz einfache Leute. Bauern beim Titicacasee, Familien, bei denen man auf dem Boden sitzend das wenige Essen teilt, das sie haben.
Sie haben wichtige Fälle strafrechtlich verfolgt, wie Geheimgefängnisse der CIA, Organhandel im Kosovo. Fürchteten Sie jemals um Ihre Sicherheit oder die Ihrer Familie?
Wir haben oft eine falsche Vorstellung von den Gefahren, die uns drohen. Ich dachte immer, ich würde eher bei einem Autounfall als durch einen Angriff sterben. Wegen oder dank meiner naiven Seite dachte ich, mir könnte nichts passieren, da ich für Gerechtigkeit einstehe. Meine Familie schützte ich, indem ich sie aus meinen beruflichen Aktivitäten ausschloss. Auf manchen Reisen war ich aber gezwungen, mich von zwei zivil gekleideten Polizisten begleiten zu lassen.
Ein Interview aus «L'Illustré», übersetzt und bearbeitet von Onur Ogul