Es ist Abend, und alle Kinder im Schlafsaal liegen in ihren Betten. Eine Nonne hebt MarieLies aus ihrer Schlafstatt und führt sie ins Badezimmer. Hier warten eine Hausangestellte und eine Wanne voll eiskaltem Wasser. MarieLies muss reinsteigen. Ihr Körper zittert, das Wasser fühlt sich an wie tausend Nadelstiche. Die Nonne packt sie an den Haaren und drückt den Kopf ins Wasser. So lange, bis sie fast ertrinkt. Dann lässt die Frau das Kind kurz Luft holen und drückt den Kopf wieder runter. Immer wieder. MarieLies ist damals drei oder vier Jahre alt – und das ist ihre Strafe, weil sie Bettnässerin ist. Die Tortur dauert monatelang. «Ich hatte Todesangst und hoffte jeden Tag, dass sie es doch einmal vergessen würden. Aber sie haben es nie vergessen.»
MarieLies Birchler sitzt am Tisch in ihrem Studio im Zürcher Seefeld. Sie ist heute 70 Jahre alt und hat leuchtend rotes Haar. Als Kind wurde sie zwangsversorgt – bei den Nonnen vom Franziskanerorden der Ingenbohler Schwestern, der Barmherzigen Schwestern vom heiligen Kreuz, im Waisenhaus Einsiedeln SZ. «Die Schwestern haben mir meine Kindheit geraubt», sagt sie. Angeblich zur Erholung kam Birchler 1951 – damals anderthalb Jahre alt – ins Heim. Sie und ihr acht Monate alter Bruder. Beide waren unterernährt und verwahrlost. «Meine Eltern waren jung und überfordert», sagt sie. Doch in der Obhut der Ingenbohler Schwestern wurde ihr Leben zum Albtraum. Die Nonnen verprügelten sie regelmässig mit einem Stock, schlossen sie allein in einer dunklen Kammer im Dachboden ein und sagten ihr bereits als Siebenjährige, sie sei des Teufels.
Über ein Dutzend Engel stehen in der Wohnung von MarieLies Birchler. «Mit der katholischen Kirche habe ich abgeschlossen», sagt sie. Es dauerte viele Jahre, bis sie es schaffte, auszutreten. «Aber noch heute glaube ich an eine höhere Macht – irgendetwas muss da oben sein», so die pensionierte Pflegerin. «Für mich hat dies aber nichts mit der kirchlichen Institution zu tun.»
Bis in die 70er-Jahre wurden in der Schweiz Kinder weggesperrt und misshandelt. Im Dokumentarfilm «Hexenkinder» von Regisseur Edwin Beeler – der aktuell in den Kinos läuft – erzählen neben MarieLies Birchler vier weitere Betroffene, wie sie in kirchlich geführten Heimen gequält und geschlagen wurden. Die meisten leiden bis heute an den Folgen. Ihre Geschichte öffentlich zu machen, war für Birchler nicht einfach. «Ich schämte mich dafür, ein Heimkind zu sein.» Kollegen und Freunden erzählte sie jahrelang von einer glücklichen Kindheit auf dem Land in Basel.
Kurz bevor sie 30 Jahre alt wird, sucht MarieLies Birchler zwei Schwestern auf und konfrontiert sie mit den Misshandlungen. Die erste sagt, sie könne sich nicht daran erinnern. Die zweite erklärt, sie habe so gehandelt, weil sie Angst vor dem Mädchen gehabt hatte – denn es sei vom Teufel besessen gewesen. 2013 heisst es in der offiziellen Entschuldigung der Ordensleitung, schuld an den Taten sei auch der «sparsame Umgang mit den verfügbaren Ressourcen» gewesen. «Da wurde mir klar, ich muss meine Geschichte erzählen, damit so etwas nie wieder passiert.»
Lange war MarieLies Birchler in Therapie, hatte Suizidgedanken. «Ich musste mit mir selber kämpfen, um am Leben zu bleiben.» Heute ist sie mit ihrem Schicksal versöhnt. Doch immer wieder holt ihre Geschichte sie ein. Etwa diesen Frühling, als sie wegen der Corona-Pandemie zu Hause bleiben musste. Eingesperrt und isoliert zu sein, fühlte sich an wie damals im Heim. Um dagegen anzukommen, ging sie oft in der Natur spazieren. «Aber ich kann inzwischen sagen: Es geht mir gut.»