Wenn es um ihre eigenen Filme geht, ist Kino nicht wirklich ihr Ding. Solche Filme schaut sich Marthe Keller nämlich nie auf der grossen Leinwand an. Sie sieht sie höchstens zu Hause in Verbier VS oder in Paris, wenn sie zufällig im Fernsehen ausgestrahlt werden. Und wenn es sich nicht vermeiden lässt, zum Beispiel an einer Filmpremiere oder einem Festival? «Dann mache ich die Augen zu, wenn ich auf der Leinwand erscheine», sagt sie mit einem lauten Lachen.
Eine Aussage wie diese würde man bei den meisten für Koketterie halten. Nicht bei ihr. Auch wenn sie sagt, «ich bin kein Star, und erst recht kein Hollywoodstar», meint sie das todernst. Natürlich habe sie viel gearbeitet, aber gezielt einem Traum oder einem Ziel sei sie nie gefolgt. Das Wort Karriere mag sie nicht. Wichtiger sind ihr Leidenschaft und Feuer für den Beruf. «Ansonsten hatte ich einfach sehr viel Glück.»
Oder auch mal Glück im Unglück. Ein Skiunfall als Teenager vereitelt der Baslerin ihre Ballett-Ambitionen. Also nimmt sie Schauspielunterricht. In den wilden 60er-Jahren landet sie in Paris. Zuerst spielt sie Theater, 1969 folgt der Film «Pack den Tiger schnell am Schwanz» an der Seite von Yves Montand. Auf dem Regiestuhl sitzt Philippe de Broca, der inzwischen verstorbene Vater ihres Sohnes Alexandre, 49.
Jahre später sieht Hollywood-Regisseur John Schlesinger Keller in einem Theaterstück in Cannes und engagiert sie für «Marathon Man» mit Dustin Hoffman. Der Film bringt ihr prompt eine Nomination für einen Golden Globe ein. Es folgen unzählige Erfolge, viele davon an der Seite von klingenden Namen.
Marlon Brando, Richard Burton, Marcello Mastroianni, Al Pacino. Marthe Keller hatte sie alle. Zumindest als Filmpartner. Pacino ist sieben Jahre lang ihre grosse Liebe. Heute verbindet sie eine enge Freundschaft. Das Gefühl, sie bekomme immer mehr oder weniger die gleichen Rollen angeboten, bewegt sie dazu, Hollywood zu verlassen. Wobei sie betont, dass sie die Arbeit in der Traumfabrik stets sehr geliebt hat. «Ich sage immer: ‹In den USA muss man in einem guten Film sein, um Erfolg zu haben, in Europa muss man gut in einem Film sein.› Hier zählt die Einzelleistung, dort das grosse Ganze.»
Sobald die letzte Klappe gefallen ist, wenn Glamour und Präsentation auf dem roten Teppich beginnen, verschwindet Marthe Keller lieber von der Bildfläche. «Wenn mir jemand sagt, ich müsse zu dieser oder jener Party, weil der und der dort anzutreffen seien, denke ich: ‹Das muss ich überhaupt nicht. Ich bin ein freier Mensch.› Diese Haltung hat bestimmt auch etwas mit meiner Schweizer Herkunft zu tun.»
Dass sie in letzter Zeit öfter in ihrem Heimatland dreht, liegt allerdings schlicht daran, dass ihr die Drehbücher gefallen. «Wanda, mein Wunder» sei einer der wenigen Filme, bei dem sie wegen der Geschichte zusagte. Den Dreh am Zürichsee beschreibt sie als «schön und unangestrengt», die Zusammenarbeit mit Regisseurin Bettina Oberli als «No-Trouble-Work». Ob eine Frau oder ein Mann Regie führt, mache für sie keinen grossen
Unterschied. «Vielleicht neigt man bei einer Frau auf dem Regiestuhl als Schauspielerin nicht so sehr dazu, die Verführerin zu geben.»
Die polnische Pflegerin Wanda kümmert sich nach dessen Schlaganfall aufopferungsvoll um den wohlhabenden Familienpatriarchen Josef. Dessen Ehefrau Elsa (Marthe Keller) sieht die Beziehung der beiden skeptisch. Als Wanda schwanger wird, gerät das Leben in der herrschaftlichen Villa am See vollends ausser Kontrolle. Bettina Oberlis Tragikomödie wirft einen kritischen Blick auf die (Schweizer) Gesellschaft in den Augen einer ausländischen Arbeitskraft.
Wer gehofft hat, Marthe Keller einmal in ihrem Basler Dialekt spielen zu sehen, wird allerdings enttäuscht. «Ich glaube, ich könnte nicht mal ein Drehbuch in Schweizerdeutsch lesen. Ausserdem spreche ich seit Jahrzehnten im Alltag kaum mehr Dialekt.» Auch nicht mit ihrem Sohn, der mehrheitlich in Paris aufwächst. Die Mutterrolle sei ihr immer wichtiger gewesen als der Beruf. «Ich liess mir vor jedem Projekt vertraglich zusichern, dass ich nie länger als zwei Wochen von Alexandre getrennt sein würde. Entweder wurde der Drehplan so angepasst, oder er besuchte mich zusammen mit einer Nanny auf dem Set.» Heute pflegt Marthe Keller eine enge Beziehung zu ihrem Sohn und dessen Familie. Die beiden Enkelinnen, 22 und 20 Jahre alt, nimmt sie 2016 mit ans Filmfestival nach Cannes, als sie dort Mitglied der Jury ist. «Der rote Teppich, die Fotografen – das ist nicht das reale Leben. Mir war wichtig, ihnen dies zu zeigen, damit sie nicht irgendwann einem falschen Traum nachrennen.»
Das 16. Zurich Film Festival findet vom 24. September bis zum 4. Oktober 2020 statt. In diesem Jahr freuen wir uns auf Gäste wie Juliette Binoche oder Til Schweiger. Alle Infos zum grossen Filmfest, Tickets und das Festivalprogramm zum Downloaden gibt es hier.