Auch Simona Scarpaleggia, 60, arbeitet dieser Tage im Homeoffice. Wer nun glaubt, die ehemalige Chefin von Ikea Schweiz habe ihre Zürcher Eigentumswohnung mehrheitlich mit Stücken ihrer ehemaligen Arbeitgeberin eingerichtet, irrt. «Nur die Küche und der rote Sessel sind von Ikea», sagt Scarpaleggia und lacht. Ihr neues Aufgabenfeld ist ein ganz anderes. Seit vergangenem Sommer ist sie globale Chefin von Edge Strategy. Die Firma mit Sitz in Zug zertifiziert Unternehmen international im Hinblick auf Chancengleichheit der Geschlechter.
Sie setzen sich seit Beginn Ihrer Karriere für Chancengleichheit ein. Wenn Sie zurückblicken: was hat sich in dieser Zeit getan?
Natürlich hat vieles geändert in den letzten 40 Jahren. Es gibt Fortschritt. Er ist sehr, sehr langsam, aber unaufhaltsam. Meine Mission ist es, ihn sichtbar zu machen und ihn zu beschleunigen. Wir können nicht nochmal 200 Jahre auf Gleichstellung warten.
Das wäre der Fall, wenn wir im gleichen Tempo weitermachen. Warum passiert das so langsam?
Zu einem grossen Teil wegen kulturellen Gegebenheiten. Nehmen wir zum Beispiel den Lockdown. Alle arbeiteten zu Hause. Männer zogen sich in ihr Büro zurück, während Frauen versuchten, Arbeit, Kinder, Fernunterricht und Haushalt unter einen Hut zu kriegen. Es gibt keinen rationalen Grund, warum das so sein soll.
Seit vergangenem Sommer sind Sie globale Chefin von EDGE Strategy. Können Sie uns erklären, was die Firma macht?
Wir zertifizieren Unternehmen im Hinblick auf Chancengleichheit und helfen ihnen, schneller zu einem gender-gerechten Arbeitsplatz zu werden. Die Bedingungen sind sehr streng: gleicher Lohn für gleiche Arbeit, Frauenanteil auf jeder Stufe, gibt es Regeln und Vorgaben, welche Gleichberechtigung stützen, herrscht im Allgemeinen eine inklusive Kultur in der Firma. Die Zertifikation findet auf verschiedenen Levels statt. Am Anfang steht «Assess» - sozusagen der gute Wille. «Move» honoriert die Fortschritte und wer bei «Lead» angelangt ist, hat vollkommene Chancengleichheit erreicht.
In der Schweiz gibt es eine einzige Firma mit letzterer – Ihre ehemalige Arbeitgeberin Ikea. Insgesamt sind zwölf Unternehmen zertifiziert in unserem Land. Das klingt nicht nach viel.
EDGE ist in 37 Ländern weltweit präsent mit einer Basis von 300 Kunden. Diese Rechnung ergibt, dass in jedem der Länder nur eine Handvoll Unternehmen zertifiziert sind. Die gute Seite ist, dass viele der zertifizierten Firmen grosse, bekannte Namen tragen, zum Beispiel Zurich Versicherungen, Allianz Suisse oder Holcim. Und wir haben einen globalen Fussabdruck, da wir weltweit tätig sind. Ich sehe ein Riesenpotenzial. Viele Unternehmen sind bereit, durch diesen Prozess zu gehen.
Nun, wir haben ja ein Gleichstellungsgesetz, das zum Beispiel Lohngleichheit vorschreibt. Trotzdem existiert ein Gender Pay Gap.
Umso wichtiger ist es, dass Erfolge gemessen werden. Nicht nur in Sachen Business-Erfolg, sondern eben auch, was Gleichberechtigung angeht.
Reicht das? Braucht es nicht Konsequenzen, wenn man sich nicht an gewisse Dinge hält?
Gruppenzwang ist nicht zu unterschätzen. Wenn mein grösster Konkurrent in meiner Branche Chancengleichheit erreicht, ich aber nicht, macht ihn dies schlussendlich zu einem besseren Arbeitgeber. Deshalb ist Sichtbarkeit so wichtig.
Im Global Gender Gap Report des WEF schafft es die Schweiz gerade mal auf Platz 20. Sie sagten einmal, Sie seien positiv eingestellt, was unser Land und Gleichberechtigung betrifft. Sind Sie das immer noch?
Ja. Die Schweiz hat viele Ressourcen. Die Finanzkraft, die Ausbildung und das Gesundheitssystem sind stark und es gibt viele gut ausgebildete Frauen mit sehr viel Potenzial. Es würde nicht viel brauchen, um zum Beispiel mit Skandinavien gleichzuziehen. Es wäre doch ein echtes Ziel für die Schweiz, eines der ersten vollkommen gleichberechtigten Länder zu sein. Ich sehe schon, dass dies ein bisschen provokativ klingen mag.
«Es gab Männer, welche mir Diskriminierung aufgrund ihres Geschlechts vorwarfen. Oder das Gefühl hatten, ich wolle ihnen Schuldgefühle auferlegen, weil sie Männer sind. Was absolut nicht der Fall ist, es nie war und auch keine Grundlage für eine Diskussion ist.»
Wie schätzen Sie denn diese zwei Wochen Vaterschaftsurlaub ein, welche sich nun nach langem, harten Kampf durchgesetzt haben?
Es ist ein weiterer Schritt, wenn man bedenkt, dass dies jahrelang ein No-Go war. Was ich für viel wichtiger halte, sind familienfreundliche Strukturen: bezahlbare Einrichtungen für Kinderbetreuung und für die Betreuung von älteren Menschen. Dann müssen die Schulzeiten ändern, es muss doch möglich sein, dass die Kinder über Mittag in der Schule bleiben. Und die Besteuerung des doppelten Einkommens. Flexible Job-Modelle werden nun früher umgesetzt, als angenommen - auch wenn es dafür ein Virus brauchte.
Auf der anderen Seite betrifft dieses Virus ökonomisch und gesellschaftlich wiederum mehr Frauen als Männer. Sie haben mit «Hearts100» eine Wohltätigkeitsorganisation mitgegründet, welche betroffenen Frauen hilft. Was machen Sie genau?
Es ist sehr simpel. Wir sammeln Geld und investieren es in Projekte, welche Frauen in armen Ländern unterstützen. In vielen Teilen der Welt hat Corona eine wirtschaftliche Katastrophe ausgelöst, wie wir sie uns in Europa nicht mal vorstellen können. Um wirklich zu helfen, müssen wir Strukturen ändern und schlussendlich die Frauen dabei unterstützen, sich selbst zu helfen.(Informationen: hearts100.org)
Gab es in ihrem Kampf für Frauenrechte je negative Reaktionen?
Es gab Männer, welche mir Diskriminierung aufgrund ihres Geschlechts vorwarfen. Oder das Gefühl hatten, ich wolle ihnen Schuldgefühle auferlegen, weil sie Männer sind. Was absolut nicht der Fall ist, es nie war und auch keine Grundlage für eine Diskussion ist. Für mich geht es nicht darum, dass Frauen Männer «bekämpfen», sondern dass beide gemeinsam eine bessere Welt schaffen. Ich weiche einem Konflikt nicht aus, aber der Startpunkt sollte sein: Ich als Person habe die gleichen Rechte wie du.
Das auszusprechen fällt vielen Frauen immer noch schwer.
Ja. Ich habe viele Frauen gesehen, die unglaublich hart gearbeitet haben, weil sie dachten, das sei der Schlüssel zum Erfolg. Und wurden dann rechts vom männlichen Kollegen überholt, der einfach «lauter», beziehungsweise sichtbarer war. Und ehrlich gesagt, war das nicht sein Fehler, sondern ihrer.
Wie kam es eigentlich dazu, dass Sie sich für Gleichheit stark machen? Sind Sie so aufgewachsen?
Meine Mutter hat immer gearbeitet, das war für mich normal. Als ich ins Berufsleben eintrat, merkte ich plötzlich die Ungleichheit. Ich wollte einfach nur mich selbst sein können, auch im Berufsleben. Und ich merkte, dass das als Frau ungleich schwieriger ist wie als Mann.
Gab es Situationen, in denen Sie sich als Frau diskriminiert fühlten in Ihrer Karriere?
Ja. Als mein drittes Kind zur Welt kam war ich Personalverantwortliche einer Firma. Am Tag nach seiner Geburt meines Sohnes kam eine Sekretärin an mein Spitalbett mit Dokumenten, die ich unterschreiben sollte – welche problemlos auch der CEO hätte zeichnen können. Ich weigerte mich. Als ich aus dem Mutterschaftsurlaub zurückkam, stand ich nicht mehr auf der Beförderungsliste des Unternehmens.
Wie haben Sie reagiert?
Ich habe es als negative Erfahrung verbucht und bin weiter meinen Weg gegangen.
Und wie sah es in Ihrem Privatleben aus? Am diskriminierendsten können ja mitunter andere Mütter sein.
Da war ich einfach immer ein bisschen eine Aussenseiterin. Ich ging zu Elternabenden und Aufführungen, und kam mir wie ein Alien vor, da man mich sonst nie sah.
Ich gehe davon aus, Sie haben auch keine Kuchen für die Buffets von Schulfesten gebacken.
Nein. Aber nicht nur, weil ich keine Zeit hatte, sondern auch, weil ich – im Gegensatz zum Kochen – einfach nicht gern backe. Ich habe immer wunderbare Kuchen von der Bäckerei gekauft. Und zugegebenermassen auch schon daran gedacht, diese ein bisschen zu verunstalten, damit sie selbstgemacht aussehen (lacht). Aber das hätte es wohl auch nicht besser gemacht. Aber ja, ich kenne diese «Oh Gott, sie hat ihn gekauft!»-Blicke.
«Für mich selbst blieb nicht viel Zeit übrig. Ich habe kaum Sport getrieben, selten Freunde getroffen. Ich denke schon, dass ich einiges geopfert habe. Aber ich bereue es nicht.»
Wie haben Sie generell Karriere und Mutterschaft vereinbart zu dieser Zeit?
Zu Hause hatte ich eine Nanny, ohne wäre es nicht gegangen. Ich war sehr organisiert und konzentriert im Büro, die Zeit daheim gehörte der Familie. Ich war immer eine sehr präsente Mutter, meine Kinder und ich haben heute ein enges Verhältnis. Für mich selbst blieb da nicht viel übrig. Ich habe kaum Sport getrieben, selten Freunde getroffen. Ich denke schon, dass ich einiges geopfert habe. Aber ich bereue es nicht.
Was hat Ihr Mann geopfert?
Man kann ehrlichweise nicht sagen, dass er sich in gleichem Mass um die Familie gekümmert hat wie ich. Aber er hat mich immer unterstützt und war und ist stolz auf mich. Das war zu der Zeit, als unsere Kinder klein waren, nicht selbstverständlich und ist auch heute noch viel Wert.
War Gleichberechtigung je ein Thema zu Hause?
Natürlich. Die beiden Mädchen haben sich immer wieder mal beklagt, ihr Bruder habe nicht so viele Pflichten wie sie. Er ist aber der Jüngste, das war eher eine Alters- als eine Geschlechterfrage. Selbstverständlich haben alle im selben Alter gleich viel beigetragen.
Ist es schwieriger, einem Jungen Gleichberechtigung zu vermitteln als einem Mädchen?
Ich hatte tatsächlich einmal eine Konversation mit meinem Sohn, als er etwa 14 war. Er hatte das Gefühl, in einer Familie von «Feministinnen» ungerecht behandelt zu werden, weil er ein Junge ist. Ich sagte ihm, es gehe bei solchen Diskussionen nicht darum, Schuldgefühle in Männern zu wecken, sondern, im Gegenteil, darum, dass eben jede und jeder genau gleich viel Wert ist. Nicht nur die Mädchen, auch er. Das war wichtig für ihn.
Was für eine Welt wünschen Sie sich irgendwann für Ihre Enkelkinder?
Eine, in der individuelle Freiheit und Respekt für andere die höchsten Güter sind. Diese Kombination würde für sehr viel Ausgeglichenheit sorgen, nicht nur in Gender-Fragen.