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  4. Autonomiephase statt Trotzphase: Expertin von Familylab gibt Tipps für Kind mit Wutanfall
Tipps für emotionale Notfallsituationen

Darum gehört der Begriff Trotzphase abgeschafft

Socken in der falschen Farbe oder ein Nein zu einem zweiten Glacé reichen – und das Kind «täubelet» vor Wut. Wie wichtig solche Situationen für seine Entwicklung sind, warum wir es nicht despektierlich als «Trotzkopf» bezeichnen sollten und was für schwierige Erfahrungen sie selber als Mutter gemacht hat, erklärt uns eine Expertin von Familylab Schweiz.

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Mädchen mit Wutanfall schmeisst Teddys durch die Luft

Manchmal muss der Frust einfach raus: Ein Mädchen schmeisst vor Wut ihre Teddys durch die Luft.

Getty Images/Image Source

Frau Märki, für Eltern von kleinen Kindern, die es noch nicht erlebt haben: Wie läuft ein sogenannter «Trotzanfall» typischerweise ab?
Das Kind möchte zum Beispiel um halb zwölf ein Schoggistängeli, was aus seiner Sicht eine super Idee ist. Mama oder Papa finden das so kurz vor dem Mittagessen aber weniger sinnvoll, sie haben in dieser Situation mehr Wissen und Erfahrung und sagen deshalb nein – für das Kind eine totale Katastrophe. Es reagiert, wie ein Zweijähriges reagieren darf: mit Wut. Manche Kinder nörgeln bloss kurz etwas herum, für andere ist dieses «Nein» der Weltuntergang – entsprechend laut und ausdauernd geben sie ihrer Wut Ausdruck.

Eigentlich ja total verständlich, wenn man sich die Situation aus Sicht des Kindes anschaut, das ja völlig im Moment lebt und sich nicht überlegt, dass es gleich Zmittag bekommen wird.
Genau, und das Ausleben der Emotionen ist sehr wichtig für die Entwicklung des Kindes! Es kommt aus der totalen Abhängigkeit der ersten 20 Lebensmonate und entdeckt sein eigenes Ich. Es lernt: «Ich kann nein sagen.» Das ist ja sehr gesund, denn die vollkommene Abhängigkeit von jemandem zerstört die Selbständigkeit und Würde eines Menschen. Das Kind lernt ab jetzt, selbständig zu sein.

Warum ist das sogenannte Trotzalter also so negativ behaftet?
Das kommt aus der Vergangenheit, als Kinder sehr stark autoritär erzogen wurden und stets respektvoll und freundlich sein mussten. Wutanfälle hatten da keinen Platz. Heute sprechen wir deshalb lieber vom «Selbständigkeitsalter» oder von der «Autonomiephase» statt vom «Trotzalter», weil allein schon dem Begriff etwas Negatives anhaftet.

Für uns Eltern kann so eine Situation aber wirklich unerträglich sein.
Ja, häufig halten Eltern so einen Wutanfall fast nicht aus. Sie ärgern sich, dass ihnen das Kind nicht gehorcht, dass es unvernünftig ist, und sie denken: «Ich mache alles falsch, andere können nein sagen und ihr Kind akzeptiert das.» Ganz verschiedene Gedanken verhindern, dass die Eltern gelassen reagieren. Sie kommen selber in eine Not und werden ebenfalls wütend, und dann kommt es zu einem Machtkampf mit dem Kind. Wenn es die Eltern schaffen, gelassen zu reagieren, darf das Kind seine Emotionen ausleben. Es wird sich beruhigen und merken: Es ist keine Welt zusammengebrochen, ich habe zwar das Schoggistängeli nicht bekommen, aber es geht mir ja immer noch gut. Schreien und wieder zur Ruhe kommen ist ein gesunder Konflikt.

Wie reagieren wir in so einem Moment der Wut des Kindes am besten? 
Wir sollten abwarten und dem Kind zeigen: «Es ist völlig ok, dass du jetzt wütend bist.» Es braucht Zeit, seine Wut zu verarbeiten, und das kann es am besten, wenn Erwachsene da sind, die das aushalten. Doch Wut und Aggression sind in vielen Familien ein Tabuthema. In meiner Praxis habe ich oft mit Eltern zu tun, welche die Wut nicht ertragen können.

Was passiert mit dem Kind, wenn die Eltern immer wieder erwarten, dass es seine Wut unterdrückt?
Das Kind lernt: Ich darf nicht so sein, wie ich bin, ich darf ein bisschen wütend sein, das ist ok, aber nicht mehr.

«Heute sprechen wir lieber vom ‹Selbständigkeitsalter› oder von der ‹Autonomiephase› statt vom «Trotzalter».

Warum fällt es uns Erwachsenen denn so schwer, die Wut unseres Kindes auszuhalten?
Das hat viel mit unserem Selbstwert und unserer eigenen Beziehung zu unserer Wut und Aggression zu tun. Es tut gut, sich diesbezüglich mal selber zu reflektieren. Viele Eltern haben so hohe Ansprüche an sich und verurteilen sich selber. Einmal kam eine Mutter zu mir in die Praxis, deren Kind sie mit seinen Wutanfällen immer an ihre manisch-depressive Mutter erinnert, das brachte sie in existenzielle Not. In solchen Situationen sollten sich Eltern unbedingt professionelle Hilfe holen.

Besonders unangenehm empfinden viele einen Wutanfall ihres Kindes in der Öffentlichkeit.
Genau, weil sie dann zusätzlich mit fremden Blicken und Kommentaren konfrontiert sind. Da müssen wir uns fragen: Warum ist mir die Meinung von ringsherum so wichtig?

Mutter mit wütendem Bub

Dieser Bub hat andere Pläne wie sein Mami: Wenns pressiert, geraten kleine Kinder und ihre Eltern besonders oft aneinander. 

Getty Images

Was für Erste-Hilfe-Tipps haben sie für Eltern, die sich mit den Wutanfällen ihrer Kinder schwer tun?
Zuallererst hilft die Erkenntnis, dass solche Wutanfälle normal und gesund sowie wichtig für die Entwicklung sind – auch wenn sie für die Eltern natürlich anstrengend sein können. Und dann den Fokus möglichst wegnehmen vom Kind und sich überlegen: Was brauche ich als Mutter oder Vater, dass ich das aushalten kann? Den einen hilft es, innezuhalten und tief durchzuatmen, anderen ein Glas Wasser oder ein Telefongespräch mit der besten Freundin. Dem Kind gehts gut, wenn es Mama und Papa gut geht.

Und was können Mama oder Papa dem Kind in so einer Situation Gutes tun?
Beim Kind bleiben und ihm zeigen: «Du bist okay mit deiner Wut.» Bloss nicht als Bestrafung weggehen! Dauert die Wut länger an, kann man zum Beispiel im gleichen Raum etwas aufräumen. Wenn Eltern immer wieder an den Punkt kommen, an dem es für sie unerträglich wird, sollten sie sich eine Beratung gönnen um herauszufinden, warum das so ist: Was löst die Wut meines Kindes bei mir aus? Vielen ist zwar bewusst, dass solche Momente zur Entwicklung des Kindes gehören, aber sie finden es so unangenehm, dass sie es fast nicht aushalten.

Sind solche Wutanfälle oft Thema in ihrer Praxis?
Ja, wir haben spezielle Kurse zum Thema, und gerade Eltern mit jüngeren Kinder kommen deswegen zu mir in die Beratung. Sie machen sich Sorgen: «Wenn sich mein Kind jetzt so benimmt, wie wird es dann mit 16 Jahren sein?» Doch die Eltern dürfen sich entspannen. Kinder, die lernen, mit ihrer Aggression konstruktiv umzugehen, werden nie gewalttätig. Gewalttätige Jugendliche haben unter anderem nicht gelernt, damit umzugehen, darum kommt ihre Aggression irgendwann explosionsartig heraus.

«Kinder, die lernen, mit ihrer Aggression konstruktiv umzugehen, werden nie gewalttätig.»

Was aber, wenn kleine Kinder ihre Wut an anderen auslassen?
Dann muss man ihnen natürlich klar machen, dass schlagen oder gemeine Worte nicht okay sind. Aber die Wut rauslassen zu können ist wichtig. Doch das Harmoniebedürfnis ist bei heutigen Eltern riesig.

Sie sind selber Mutter dreier erwachsener Kinder. Was haben sie für Erfahrungen gemacht bezüglich Wut?
Bei den älteren beiden Kindern ging es irgendwie – doch das dritte Kind bot mir diesbezüglich ein sehr grosses Lernfeld … Mir liefen die Tränen übers Gesicht, als ich eines Tages miterleben durfte: Jetzt kann er mit seiner Wut umgehen. Heute können wir darüber lachen, wenn mein Sohn wütend ist und anschliessend sagt: «Man darf doch hier noch wütend werden?»

Was hat ihnen geholfen?
Anfangs bin ich auf die selbe Schiene gerutscht wie so viele und schickte mein Kind in sein Zimmer, damit es sich beruhigen kann, weil ich es anders nicht ausgehalten hätte. Doch dann nahm ich mir die Haltung von Familylab zu Herzen: Nicht das Kind ist falsch, sondern mir als Mutter geht es gerade nicht gut damit. Was brauche ich? Wie ist es für mich? Je klarer ich bin, um so schneller kann ich für mich und meine Integrität Verantwortung übernehmen. Genau das braucht ein wütendes Kind: Erwachsene, die ihm vorleben, wie verantwortungsvoll gehandelt werden kann, wenn es einem zu viel wird.

«Als Neunjähriger hat mein Sohn ein halbes Schulzimmer zusammengeschlagen.»

Gab es einen Schlüsselmoment?
Als Neunjähriger hat mein Sohn ein halbes Schulzimmer zusammengeschlagen, weil er sich ungerecht behandelt gefühlt hatte. Die Lehrpersonen fragten ihn in unserm Beisein: Willst du etwas zum heutigen Morgen sagen? Er übernahm die volle Verantwortung; sagte, seine Reaktion sei nicht okay gewesen, aber auch das Verhalten der Lehrpersonen nicht, und diese stimmten ihm zu! Das ist übrigens typisch bei Aggressionen von Schulkindern: Sie entstehen sehr oft aus zwischenmenschlichen Gründen. Ich sass in besagter Situation neben meinem Sohn und dachte: «Das gibts ja nicht!» Er übernahm von sich aus die Verantwortung – und von da an gab es solche schlimmen Situationen nicht mehr. Ich wusste, unsere Offenheit für seine Wut hat ihm geholfen, damit umzugehen, denn wir hatten ihn nie dafür verurteilt. Das freute mich sehr, sehr.

Caroline Märki ist Gründerin der Schweizer Niederlassung von Familylab, der Organisation nach den Ideen des grossen dänischen Pädagogen Jesper Juul.

Von Christa Hürlimann am 21. August 2020 - 07:09 Uhr