Die Coronakrise verändert gerade unsere Welt. Eine Ahnung breitet sich aus, dass es so nicht weitergehen kann wie bisher. Irgendetwas läuft schon eine Weile schief mit uns und der Art wie wir miteinander umgehen und unser Leben gestalten.
An diesem Punkt steigt Remo H. Largo, 76, der bekannteste Kinderarzt der Schweiz, in seinem neuen Buch «Zusammen leben» ein. Seine Grundthese, die er das Fit-Prinzip nennt, basiert auf folgender Annahme: Jeder Mensch strebt danach, mit seinen individuellen Grundbedürfnissen, Begabungen und Vorstellungen in Übereinstimmung mit der Umwelt zu leben.
Doch wie können wir das konkret umsetzen? Wir haben einen Aspekt aus dem Buch herausgepickt und zeigen euch, warum wir uns schleunigst vom Familienmodell der isolierten Kleinfamilie verabschieden sollten.
Eine Mutter, ein Vater, null oder maximal ein Geschwister. Für Largo greift die historisch betrachtet relativ junge Kleinfamilie zu wenig weit und bremst alle Beteiligten aus. Denn Kinder brauchen die Gemeinschaft für ihre Entwicklung, brauchen Inspiration von anderen Kindern und weiteren Erwachsenen, an denen sie sich orientieren können und die ihnen als Vorbilder dienen.
Konflikte austragen, streiten lernen, ein Wir-Gefühl entwickeln, Verantwortung übernehmen – für all das braucht es eine Lebensgemeinschaft mit vertrauten Menschen.
«Wenn jüngere Kinder erleben, wie ältere Aufträge ausführen, werden sie dazu weit eher bereit sein, als wenn sie als Einzelkind in einer Kleinfamilie von den Eltern dazu aufgefordert werden», nennt Largo ein Beispiel.
Dazu schreibt er: «Aus den vielfältigen Erfahrungen und Vorstellungen, die Kinder machen und verinnerlichen, entsteht eine solidarische Grundhaltung, die sich nachhaltig auf ihr zukünftiges Leben auswirkt, etwa wie wichtig ihnen verlässliche und tragfähige Beziehungen sind und ob Partnerschaft, Gemeinschaft und Familie zu ihrem Lebensentwurf gehören.»
Das Konzept der Lebensgemeinschaft nimmt auch Druck weg von den Eltern: Mehr Augen, mehr Ohren, mehr Hände, die helfen, die Kinder grosszuziehen, ihnen Geborgenheit und Anerkennung zu schenken. Die Erziehungslast wird auf mehrere Schultern verteilt.
«Um ein Kind grosszuziehen, braucht man ein ganzes Dorf». Das afrikanische Sprichwort hat Largo schon in seinem Bestseller «Babyjahre» aufgeführt. Der Kinderarzt wiederholt es mantramässig. Zum Dorf gehört auch ein Rudel Kinder, das selbstbestimmt miteinander spielen kann und nicht einen Nachilfestunden- und Freizeitaktivitäten-Marathon absolvieren muss.
Der regelmässige Austausch mit anderen Kindern «bringt das Kind dazu, soziale Regeln zu verinnerlichen, konfliktfähig zu werden und sich zu integrieren.»
Zusammen mit dem Kindergarten verbringen wir in der Schweiz mindestens elf Jahre in der Schule. Eine lang Zeit, die uns nachhaltig prägt. Dabei läuft nach Largo vieles grundlegend schief: «Die Schule orientiert sich nicht an den individuellen Stärken der Kinder, sondern an ihren Schwächen.» Eine riesige Förderindustrie versuche diese Schwächen auszumerzen.
Dieser Ansatz ist für den Kinderarzt komplett falsch: «Unsere Gesellschaft ist leider nach wie vor nicht bereit, verständnisvoll mit der Vielfalt unter den Kindern umzugehen, auf die unterschiedlichen Ausprägungen der Kompetenzen und die Grenzen der individuellen Lernfähigkeit einzugehen, so dass Kinder selbstbestimmt alle ihre Kompetenzen und nicht nur die von der Gesellschaft geforderten entwickeln können. Nur so bleiben Lernmotivation, Kreativität und Eigenverantwortung erhalten.»
Das leistungsorientierte Bildungssystem setze auf Didaktik, Methodik und Fachwissen des Lehrpersonals, dabei gehe der wichtigste Faktor für den Lernerfolg verloren: Eine vertrauensvolle Lehrer-Schüler-Beziehung. Auch die Lehrperson ist Teil dieser erweiterten Gemeinschaft, des Dorfes, das hilft, unsere Kinder grosszuziehen.