Frau Rösler, rund ein Drittel der Schüler*innen hat seit dem Lockdown mit Lerndefiziten zu kämpfen. Wie kommt diese Zahl zustande?
Bereits vor den Sommerferien haben die Lehrpersonen gemerkt, dass einige Kinder während des Fernunterrichts wenig bis nichts gelernt haben. Sie hatten zu Hause keine Unterstützung, waren teilweise gar nicht erreichbar und auf sich alleine gestellt. Eine aktuelle Studie der Pädagogischen Hochschule Zug hat diese Einschätzung bestätigt. Pro Klasse sind etwa ein bis zwei Kinder betroffen.
Wie hilft man diesen Kindern, den Anschluss zu schaffen?
Einige konnten sich bereits aufraffen und die Defizite eigenständig aufarbeiten. Andere wurden während des Unterrichts durch Lehrer*innen und Heilpädagog*innen unterstützt. Aber es geht hier nicht nur um schulische Probleme. Kinder, die während des Fernunterrichts alleine gelassen wurden, haben auch psychisch gelitten. Viele von ihnen konnten durch Gespräche und durch Schulsozialarbeit aufgefangen werden. All diese Angebote sind auch weiterhin essenziell und sollen systematisch aufgebaut werden, deshalb fordert der Lehrerverband zusätzliche finanzielle Mittel. So, dass Schülerinnen und Schüler mit Defiziten, die aus dem Lockdown entstanden sind, gezielt wieder aufgebaut werden können.
Welche Verantwortung tragen die Eltern, wenn es darum geht, den Schulstoff aufzuholen?
Kinder, die während des Lockdowns keine Unterstützung von den Eltern hatten, sind zwar in der Minderheit, sie dürfen aber trotzdem nicht vergessen werden. Es ist wünschenswert, dass die betroffenen Mütter und Väter mit den Lehrer*innen am gleichen Strang ziehen. Sonst besteht die Gefahr, dass diese Schüler*innen erneut nicht mitkommen. Die Folgen könnten gravierend sein.
Sind Lerndefizite bei Erstklässlern weniger schlimm, als bei Schüler*innen der neunten Klasse?
Das würde ich so nicht sagen, denn die Themen sind ganz unterschiedlich. Wer in der ersten Klasse ein Mathematikthema verpasst hat, kann grosse Schwierigkeiten haben, später mitzukommen. Auch bei älteren Kindern können Lücken schwerwiegend sein, zum Beispiel für Übertritte in weiterführende Schulen oder in die Lehre. Aber im Gegensatz zu den jüngeren können die Grossen mit Eigeninitiative viel aufholen. Und der Lehrplan 21 ist zirkular aufgebaut, das heisst, dass Themen immer wieder behandelt werden. Wichtig ist, dass die Wissensbasis stimmt und gestärkt werden kann.
Wie schnell müssen die Lernlücken nun geschlossen werden?
Der Lockdown dauerte zum Glück nur wenige Wochen. Ich bin überzeugt, dass es machbar ist, den fehlenden Schulstoff in den nächsten Monaten aufzuarbeiten.
Werden Kinder während des Schuljahres die Klasse wiederholen müssen?
Es ist noch zu früh, darüber zu spekulieren. Aber Repetitionen werden so gut es geht vermieden. Studien zeigen, dass es nicht viel bringt und Probleme oftmals nur weitergeschoben werden. Es gibt natürlich Ausnahmen, zum Beispiel wenn Kinder lange krank oder aus anderen Gründen abwesend waren, wenn sie zugezogen sind oder familiäre Probleme haben.
Was raten Sie Eltern, die befürchten, ihre Kinder könnten trotz Homeschooling Lernlücken haben?
Die Frage ist, ob das Gefühl gefestigt ist oder ob es aus einer elterlichen Angst heraus kommt. Lehrer*innen haben in der Planung des aktuellen Schuljahres beachtet, welchen Unterrichtsstoff sie im Lockdown zu wenig oder gar nicht behandeln konnten. Diese Themen werden nun repetiert. Solange das Kind am Fernunterricht teilgenommen und gelernt hat, würde ich mir keine Sorgen machen. Auf eine mindestens neunjährige Schullaufbahn gerechnet war der Unterbruch im Frühjahr sehr kurz. Wenn die Schulen aber immer wieder geschlossen werden müssten, wäre das etwas anderes.
Wie oft sollten sich Eltern ganz konkret mit ihren Kindern zum Repetieren hinsetzen?
Weniger ist mehr. Kinder haben heute bereits früh sehr viele Lektionen in der Schule, da können zusätzliche Stunden zu Hause die Freude am Lernen nehmen. In der 1. und 2. Klasse sind es maximal 15 Minuten am Tag, in der 3. und 4. Klasse 30 Minuten, in der 5. und 6. Klasse 30 bis 45 Minuten und von der 7. bis zur 9. Klasse höchstens eine Stunde. Empfehlenswert ist, bei der Lehrperson nachzufragen, welche Aufgaben gelöst werden können. Wichtig ist auch, mit dem Kind genau abzumachen, von wann bis wann diese Extra-Lernzeit dauert und es danach wieder etwas anderes machen darf.