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Margrit Stamm über Vor- und Nachteile von Gymi und Lehre

«Die Matur allein ist noch kein Ticket zum Erfolg»

Bei der Berufswahl setzen viele Eltern auf Nummer sicher – und raten ihren Kindern, zuerst die Matur zu machen. Erziehungswissenschaftlerin Margrit Stamm erklärt, warum das nicht immer der beste Weg ist. Und dass auch sie als Mutter Fehler machte.

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Margrit Stamm, Schweizer Erziehungswissenschaftlerin und emeritierte Professorin für Erziehungswissenschaften an der Universität Freiburg, 11. Juli 2023 in Aarau

Vom Arbeiterkind zur international renommierten Erziehungswissenschaftlerin und Professorin: Unsere Interviewpartnerin Margrit Stamm.

Fabienne Buehler

Für Schulabgängerinnen und Schulabgänger fängt nach den Sommerferien ein neuer Lebensabschnitt an. Mehr oder weniger. Denn während Lehrlinge und Lehrtöchter ihre ersten Versuche mit Schaufel, Pinsel, Kochlöffel oder im Kundenkontakt machen, drücken ihre Freunde an Gymnasium oder Kantonsschule weiterhin die Schulbank. Manche von ihnen werden in ihren neuen Tätigkeiten aufgehen, andere werden sich durchboxen müssen oder sich für einen Abbruch und Neubeginn entscheiden. Allen gemeinsam: Sie brauchen eine gute Begleitung.

Frau Stamm, Jugendliche müssen sich mit zwölf, dreizehn Jahren entscheiden, was sie als Erwachsene arbeiten möchten – klar, dass die Wahl in diesem Alter noch stark beeinflusst ist von den Eltern.
Die frühe Einschulung der Kinder hat tatsächlich Auswirkungen auf die Berufswahl. Das sind zum Teil noch richtige Kinder, die Schnupperlehren machen müssen, und in Betrieben herrschen ganz andere Hierarchien als in der Schule. Auch darum empfehlen viele Eltern ihren Kindern: «Geh zuerst mal ins Gymi.» Das verschafft ihnen mehr Zeit, die Anforderungen hat man einigermassen unter Kontrolle, wenn das Kind den nötigen Notenschnitt hat. Ein Eintritt in eine Berufslehre scheint da anspruchsvoller. Gerade auch dann, wenn ein Kind noch nicht recht weiss, was es will.

Was raten Sie in einem solchen Fall?
Gute Schnupperlehren sind wichtig, viele grössere Betriebe sind da toll aufgestellt mit berufsbildenden Personen, welche die Jugendlichen abholen und begleiten. Eine Berufslehre ist eine Chance zur Identitätsentwicklung. Gerade schulmüde Jugendliche können in einer Lehre aufblühen.

Doch die Maturitätsquote ist stark gestiegen: 1980 machten in der Schweiz 10 Prozent der Schulabgängerinnen und Schulabgänger Matur, heute sind es 20, zählt man die Berufsmatura dazu, fast 40 Prozent. Was spricht denn dagegen?
Dieser Weg wird oftmals zu wenig weit gedacht von Eltern: «Mach das Gymi und die Matur, dann sind wir zufrieden.» Aber: 20 Prozent der Maturanden gehen nie studieren. 10 Prozent finden keine angemessenen Berufe. Man muss klar sehen: Nur die Gymi-Matur in der Tasche ist kein Ticket für Berufserfolg.

«Wer eine Lehre auf dem Bau macht, kann Polierin werden und später ein Geschäft übernehmen»

Margrit Stamm

Sie äussern sich immer wieder pro Berufslehre. Warum?
Weil es auch unter den Gymnasiasten viele gäbe mit Interessen und Begabungen praktischer Art. Und weil auch eine Lehre gute Möglichkeiten für eine erfolgreiche Karriere bietet. Wer eine Lehre auf dem Bau macht, kann sich weiterbilden zur Polierin und später ein Geschäft übernehmen. Dank der Durchlässigkeit unseres Bildungssystems bleiben alle Möglichkeiten offen. Aber: Das Gymnasium ist eben auch ein Statussymbol. Wenn ein Architekt und eine Wissenschaftlerin bei einem Small Talk erzählen, ihre Tochter werde Bäuerin – ich kenne so ein Paar –, sorgt das für Erstaunen. Das braucht auch ein Selbstbewusstsein seitens der Eltern.

Eltern wollen nun mal das Beste für ihre Kinder.
Der Druck, den Kinder spüren, kommt in 80 Prozent der Fälle vom Elternhaus. Mütter und Väter sollten gelassen bleiben, auch wenn es der Sohn oder die Tochter nur in die Sek B beziehungsweise die Realschule schafft. Auch von diesem Ausgangspunkt gibt es so gute Entwicklungen! Niemand will ja, dass sein Kind mit 14 unter dem Leistungsdruck zerbricht. Und solche Beispiele gibt es immer mehr.

«Man­che Eltern erwarten schlicht zu viel, sie wollen ein spezielles Kind.»

Margrit Stamm

Wer ist verantwortlich dafür? 
Das ist unterschiedlich. Die Gesellschaft übt Druck aus, das beleuchte ich im Buch «Angepasst, strebsam, unglücklich. Die Folgen der Hochleistungsgesellschaft für unsere Kinder». Die Fachlehrkräfte der Oberstufe setzen unabgestimmt Prüfungen an. Und manche Eltern erwarten schlicht zu viel, wollen ein spezielles Kind.

Was verhilft Eltern zu mehr Gelassenheit? 
Man müsste unser Bildungssystem früher in der schulischen Laufbahn offiziell erklären: Was kann und erfordert eine Berufslehre, was das Gymi, wie sieht es mit dem Leistungsdruck aus? Im Raum Bern gibt es eine Elterngruppe mit der Abmachung, ihre Kinder nicht unter Druck zu setzen. Machen es die einen nicht, müssen es die anderen auch nicht tun.

Wer soll diese frühe Aufklärung machen? 
Leute, die schulpsychologisch geschult sind. Ich sage nicht, es sollten weniger Jugendliche ins Gymi gehen, aber es ist wichtig, dass es die richtigen schaffen. Denn oft ist ihre Herkunft entscheidender als ihre Interessen und Fähigkeiten. Akademikerkinder schaffen es leichter ans Gymi als Kinder aus Arbeiterfamilien, die gut sind in der Schule, aber keine Unterstützung haben.

Letzteren mangelt es wohl auch am nötigen Netzwerk.
Für sie wären Mentoren toll, etwa Klassenassistenzen oder Pensionierte. Aber auch die Lehrpersonen sind wichtig. «Du schaffst das, ich unterstütze dich», solchen Zuspruch nannten Teilnehmende in einer unserer Studien als sehr zentral für ihr Selbstwertgefühl. Schädlich fanden sie es hingegen, wenn ihnen jemand von ihrem Ziel abriet.

«Meinen Sohn habe ich zu fest unter Druck gesetzt. Heute würde ich das anders machen»

Margrit Stamm

So scheint es Ihnen persönlich ergangen zu sein?
Mein Vater, ausgebildeter Sattler/Tapezierer, arbeitete als Bodenleger, meine Mutter hatte keine Ausbildung, sie kellnerte oder arbeitete im Akkord. Sie sagten: «Margrit, du musst nicht meinen, du seist wer, wir sind niemand.» Meine Rettung war mein Mann, den ich mit 21 getroffen habe. Er gab mir das Gefühl, ich könne etwas. Als ich einige Jahre unterrichtet und Kinder bekommen hatte, fing ich mit 35 an zu studieren. Ohne meinen Mann hätte ich mir das kaum zugetraut. Als ich Professorin wurde, haben sich meine Eltern fast geschämt und immer betont, ich sei noch die Gleiche wie früher.

Wie waren Sie als Mutter?
Ich dachte natürlich, ich wisse, wie das geht. Unsere Tochter war eine «Rakete», ihr fiel alles leicht, unser Sohn hingegen war ein Träumer, langsam und kompliziert. Er schaffte es mit Ach und Krach durchs Gymi. Dann hat sich der Knoten gelöst, und heute ist er Soziologe, meine Tochter Politologin. Doch meinen Sohn habe ich zu fest unter Druck gesetzt, es gab öfters Tränen. Heute würde ich das anders machen. Er nimmt es mir aber offenbar nicht übel und sagt selbst, er sei ein Träumer gewesen …


Tipps von Margrit Stamm, wie Eltern ihre Schulkinder am besten unterstützen, und weitere Interviews mit ihr rund um Schule und Erziehung gibts hier.

Von Christa Hürlimann am 16. August 2023 - 17:18 Uhr