Anna Rosenwasser, wie erleben Sie als Co-Geschäftsleiterin der Lesbenorganisation Schweiz LOS das «Ja» des Nationalrats zur Ehe für alle und zur Samenspende für lesbische Paare?
Wir freuen uns sehr über den Entscheid, besonders, weil er mit 132 Ja- zu 53-Nein-Stimmen klar ausgefallen ist. Der heutige Entscheid war lange überfällig, das Parlament und die Gesetzgebung sind dem Willen des Volkes ewig hinterhergehinkt. Wir sind uns aber bewusst, dass dies nur der erste Schritt ist. Jetzt muss der Ständerat noch Ja sagen.
Denken Sie, dass die Sichtbarkeit der LGBTIQ+-Bewegung in den letzten Jahren zu dieser Entwicklung in der Politik beigetragen hat?
Tatsächlich haben wir gemerkt, dass in den letzten ein bis zwei Jahren viele LGBTIQ+ in der Gesellschaft sichtbarer geworden sind. Auch die LOS ist in den letzten Jahren gewachsen. Die Menschen finden und stehen mehr zu sich und fordern auch ihre Rechte ein. Sie beugen sich der Ungleichbehandlung und der Ungerechtigkeit nicht mehr stillschweigend.
Die Eidgenössisch-Demokratische Union (EDU) hat angekündigt, gegen den heutigen Nationalratsentscheid das Referendum zu ergreifen. Wie sehen Sie die Chancen der Partei?
Leider ist die EDU fähig, das Referendum zu ergreifen, dies haben wir bereits beim Anti-Diskriminierungsgesetzt erlebt. Aber die EDU unterschätzt auch, wie modern die Schweiz tatsächlich ist.
Und was, wenn es zu einer Volksabstimmung kommt?
Wir gehen davon aus, dass tatsächlich das Volk darüber entscheiden muss. Mehrere Dachverbände haben ein Komitee für die Ehe für alle gegründet. Gemeinsam werden wir weiterhin hart arbeiten, uns für unsere Anliegen und Rechte einsetzen und diese in der Öffentlichkeit kundtun. Für die Organisationen ist dies ein riesiger Aufwand, der ohne Referendum nicht nötig wäre. Aber wir sind zuversichtlich, dass die Schweizerinnen und Schweizer sich an der Urne für die Ehe für alle aussprechen werden.
Angenommen, die Ehe für alle und die Samenspende für lesbische Paare werden vom Ständerat und dem Volk angenommen: Was ändert sich ganz konkret für Lesben?
Wenn ein Frauenpaar in der Schweiz bisher eine Familie gründen wollten, musste es das entweder mit einem Mann lösen oder in ein Land reisen, in dem die sehr teure und komplizierte Samenspende für Lesben erlaubt ist. Nach der Geburt des Kindes waren sie aber, im Gegensatz zu einem heterosexuellen Paar, rechtlich nicht abgesichert. Stattdessen mussten sie einen ganz mühsamen und langwierigen Adoptionsprozess durchlaufen, der für die Beteiligten nicht selten traumatisch ist. Je mehr man sich damit beschäftigt, desto mehr merkt man, dass die Schweiz diesen Paaren nicht zutraut, eine Familie zu sein. Die Ehe für alle und die Samenspende erleichtern das Leben der Betroffenen enorm und setzen ein Zeichen dafür, dass alle gleich akzeptiert sind.
Anna Rosenwasser, 30, ist Co-Geschäftsleiterin der Lesbenorganisation Schweiz LOS und für die deutschsprachige Schweiz zuständig. Sie schreibt als Kolumnistin für verschiedene Schweizer Medien.
Wären die lesbischen Partnerinnen der Schwangeren mit dem neuen Gesetz zur Samenspende automatisch als Mütter anerkannt?
Ja, es handelt sich um eine Anerkennung der Elternschaft ab Geburt.
Welche Auswirkungen hätte die definitive Annahme des Gesetzes auf die Identität und das Selbstbewusstsein der Lesben in der Schweiz?
Es gibt mehrere Studien, beispielsweise aus den USA, die zeigen, dass die Zahl der Suizidversuche unter Homosexuellen abnimmt, sobald die Ehe für alle eingeführt wird. Die Einführung des Gesetzes hat einen massiv positiven Einfluss auf die Psyche der betroffenen Menschen, sogar bei Teenagern, die noch überhaupt nicht ans Heiraten denken. Es ist eine Frage der Entscheidungsfreiheit.
Denken Sie, dass Lesben in der Schweiz vom Recht auf Samenspende überhaupt Gebrauch machen würden?
Auf jeden Fall, das merken wir ganz klar in unserer Arbeit bei LOS und dem Austausch mit Betroffenen. Für Schweizer Frauenpaare ist die Samenspende im Ausland eine der führenden Arten, eine Familie zu gründen. Es ist ein grosses Bedürfnis von lesbischen Paaren und ein sehr wichtiges Thema, das viele Leute betrifft.