Ein Lieblingskind zu haben, gilt als Tabu. Entsprechend würden auch die wenigsten Mütter und Väter zugeben, dass das bei ihnen der Fall ist. Doch es kommt gar nicht so selten vor, dass sich Elternteile einem Kind näher fühlen. Weshalb das so ist und welche Einflüsse mitbestimmen, welches Kind eher bevorzugt wird, haben die Psychologen Alexander Jensen und McKell Jorgensen-Wellsvon von der Brigham Young University in Amerika erforscht.
«Jahrzehntelange Forschung zeigt, dass eine unterschiedliche Behandlung negative Folgen für die Entwicklung haben kann, insbesondere für benachteiligte Geschwister.»
Für ihre Studie, deren Ergebnisse im «Psychological Bulletin» veröffentlicht wurden, analysierten sie Daten von rund 20'000 Menschen aus Amerika und Westeuropa, zudem zogen sie bestehende Studien bei und durchforsteten Datenbanken. Zu ihrer Motivation, sich dem Thema «Lieblingskind» anzunehmen, sagten sie: «Jahrzehntelange Forschung zeigt, dass eine unterschiedliche Behandlung negative Folgen für die Entwicklung haben kann, insbesondere für benachteiligte Geschwister.» Dennoch sei bislang wenig darüber bekannt gewesen, welche Kinder von den Eltern eher bevorzugt werden.
Jensen und Jorgensen-Wellsvon konzentrierten sich bei ihrer Arbeit auf die Bevorzugung eines Kindes im Zusammenhang mit der Geburtenreihenfolge, des Geschlechts, des Temperamentes und der Persönlichkeit. Zudem wurden Geschlecht und Alter der Elternteile berücksichtigt und der Bereich Erziehung in folgende Kategorien unterteilt: allgemeine Behandlung, positive Interaktion, negative Interaktion, Ressourcenverteilung (beispielsweise Geld, Kontrolle und Autonomie.
Mädchen werden eher bevorzugt
Anhand ihrer Untersuchungen kamen die Forschenden unter anderem zum Schluss, dass Eltern eher Mädchen bevorzugen – und zwar Mütter und Väter. In Amerika sei dies ausgeprägter als in Westeuropa. Eine überraschend geringe Rolle spielt die Geburtenreihenfolge bei der Frage, welches Kind am ehesten zum Lieblingskind wird. Zwar werden jüngere Kinder gemäss den Autoren der Studie eher verwöhnt und entsprechend in gewissen Bereichen bevorzugt, ältere Geschwister sind dafür in Bezug auf Kontrolle und Autonomie besser gestellt.
Umgängliche Kinder im Vorteil
In Bezug auf die Persönlichkeitsmerkmale zeigte sich, dass gewissenhafte Kinder und solche mit einem hohen Grad an Verträglichkeit – also Empathie, Kooperationsbereitschaft und Bereitschaft, auf andere Rücksicht zu nehmen – von den Eltern leicht bevorzugt werden. Die Psychologen vermuten, dass dies der Fall ist, weil Kinder mit diesen Persönlichkeitsmerkmalen schlicht einfacher zu erziehen sind.
Knaben fühlen sich nicht benachteiligt
Kinder nehmen die Unterschiede in der Erziehung übrigens kaum wahr. So fühlen sich etwa die wenigsten Töchter ihren Brüdern gegenüber bevorzugt und auch die Brüder fühlen sich nicht benachteiligt. Jensen und Jorgensen-Wellsvon räumten dann auch ein, dass die Gründe, weshalb Eltern ein Kind bevorzugen, wohl vielschichtiger sind, als sie das in ihrer Studie darstellen konnten und viele weitere Faktoren einen Einfluss auf die Eltern-Kind-Beziehung haben könnten. Mit ihren Erkenntnissen möchten sie jedoch einen Einblick in familiäre Dynamiken gewähren und womöglich liefern sie Vätern und Müttern den Anstoss, zu überdenken, ob sie unbewusst doch eines ihrer Kinder bevorzugt behandeln.