Nie standen Eltern so viele Informationen zur Verfügung wie heute. Von Hilfseinrichtungen wie der Mütter- und Väterberatung über Ratgeberbücher bis hin zu Internetforen – wer den eigenen Erziehungsstil bewusst gestalten will, hat zahlreiche Ressourcen zur Verfügung.
Ist Erziehung deswegen einfacher geworden? Nicht unbedingt. Denn die junge Elterngeneration muss sich zwar nicht mehr mit aufwändigen Haushaltsarbeiten wie der Handwäsche abplagen, dafür aber an anderen Fronten ein Vielfaches mehr leisten. Sowohl im Beruf wie auch in der Care-Arbeit werden Müttern und Vätern Höchstleistungen abverlangt. Dazu kommen neue Aufgabenbereiche, etwa die Medienerziehung, bei welcher man sich nicht auf die Erfahrungswerte vorangehender Generationen stützen kann.
Manche Dinge gehen im Familienalltag verloren
Dass sich Erziehungsmuster, beeinflusst durch äussere Umstände und veränderte Wertehaltung, mit jeder Generation verändern, hat definitiv gute Seiten. So sind Eltern mittlerweile sensibilisiert für den Schaden, den Gewalt psychischer und physischer Natur in der kindlichen Entwicklung anrichten kann. Jedoch haben heutige Erziehungsformen auch Nachteile. Denn im modernen Familienalltag kommen Kindern gewisse Lernfelder abhanden. Gelingt es, diese zu entlarven, können Eltern Gegensteuer geben. Zum Beispiel in diesen drei Bereichen:
Körperliche Entwicklung: Viele Kinder können heute weder Hampelmann noch Purzelbaum. Das ist keine Behauptung, das belegt eine Vielzahl von Studien. Immer mehr Kinder leiden unter Defiziten beim Körpergefühl und der Koordination. Das Marie Meierhoher Institut hält fest: «Eine grosse Mehrheit der Kinder zwischen drei und acht Jahren erreicht die offiziellen Bewegungsempfehlungen. Erhebungen zu den motorischen Basiskompetenzen aber zeigen, dass bis zu einem Drittel der Kindergärtler:innen und Erstklässler:innen motorischen Förderbedarf aufweisen.» Oft zeigen Kinder in ländlichen Gegenden bessere motorische Basiskompetenzen als Stadtkinder. Auch regionale Unterschiede sind feststellbar.
Bewegungserfahrungen beeinflussen also nicht nur die motorische und körperliche Entwicklung des Kindes, sondern auch alle anderen Entwicklungsbereiche.
Was überall gleich ist: Die motorischen Basiskompetenzen stehen in direktem Zusammenhang mit der gesamten gesunden Entwicklung eines Kindes. «In der kindlichen Entwicklung spielt Bewegung eine zentrale Rolle. Bewegung eröffnet und erweitert die Möglichkeiten des Kindes sich mit sich selbst, mit anderen Menschen, Materialien und Raum auseinanderzusetzen. Bewegungserfahrungen beeinflussen also nicht nur die motorische und körperliche Entwicklung des Kindes, sondern auch alle anderen Entwicklungsbereiche.» Was wir tun können: Das freie Spiel fördern, die Kinder turnen lassen, sie aber auch anleiten dabei, gezielte Übungen zu machen – etwa bei Ballspielen.
Kreativität: Im Restaurant am Handy gamen, bis das Essen kommt. Im Zug ein paar Videos schauen, anstatt zum Fenster raus. In einer modernen Kindheit gibt es kaum noch beschäftigungsfreie Wartezeiten und schon gar keine ellenlangen Nachmittage an denen man nichts anderes zu tun hat, als auf einem Kirschenbaum zu sitzen, Früchte zu stehlen und sich Streiche auszudenken. In einer Welt voller Ablenkung kann man vergessen, was Langeweile eigentlich ist: ein Geschenk. Ein Geschenk, das Eltern ihren Kindern machen können, um deren Resilienz und Kreativität zu fördern. Das sind zwei wesentliche Bausteine des subjektiv empfundenen Glücks. Nur, wie soll ein erwachsener Mensch wissen, was er mit sich selbst anfangen kann, wenn er als Kind nicht gelernt hat, Langeweile zu überwinden?
Langeweile ist aber nicht nur der Zündstoff für unsere Kreativität. Susan Greenfield, Hirnforscherin, Schriftstellerin und Mitglied des britischen Parlaments, weiss, dass wir durch die aktuelle ständige Reizüberflutung nachhaltigen Schaden in unserem Gehirn anrichten. «Als Kinder waren wir es gewohnt, unser Vorstellungsvermögen zu nutzen – wir konnten aus einem schlichten Karton eine ganze Festung werden lassen. Für unsere geistige Entwicklung ist das sehr wichtig, denn wir hatten unsere Fantasie in der Hand, waren Herr unserer eigenen Geschichte, hatten die Kontrolle.» Heutzutage wird vieles von aussen vorgegeben. Aktivität ist stimuliert, Alltag getaktet.
«Viele Kinder wissen heute nicht, dass sie kreative Fähigkeiten haben, weil sie stets am Konsumieren sind»
Ina Blanc, Kinder- und Jugendpsychologin
Die Basler Kinder- und Jugendpsychologin Ina Blanc beobachtet die aktuelle Entwicklung besorgt: «Viele Kinder wissen heute nicht, dass sie kreative Fähigkeiten haben, weil sie stets am Konsumieren sind», sagte sie kürzlich in der NZZ.«Eltern haben oft Hemmungen, ihre Kinder der Lange- weile zu überlassen. Wenn Kinder aber dank ihrer Imaginationskraft leere Zeit selbst füllen, gibt es ihnen ein Gefühl von Selbstwirksamkeit und Selbstvertrauen.»
Mehr zum Thema in unserem Artikel: «Was Kinder wirklich glücklich macht ... ist Training!»
«Versuche niemals, ein glückliches Kind glücklicher zu machen. Wenn dein Kind glücklich ist … lass es in Ruhe.»
Susie Allison, Pädagogin
Was wir tun können? Unseren Kindern zutrauen, Langeweile auszuhalten. Sie nicht sofort mit Beschäfitgungsideen überfluten, wenn sie mit sich nichts anzufangen wissen. Und: Sie nicht unterbrechen, wenn sie sich gerade selbst beschäftigen. Nicht einmal, um ihr Spiel zu kommentieren oder. zu loben. Die amerikanische Pädagogin und Autorin Susie Allison rät: «Versuche niemals, ein glückliches Kind glücklicher zu machen. Wenn dein Kind glücklich ist … lass es in Ruhe.» Mehr dazu erfahrt ihr hier.
Haushalt: Laut Taschenstatistik 2019 leben mehr als 90 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer in einem Haushalt mit Geschirrspüler. Oft werden nur noch Einzelstücke, die nicht spülmaschinenfest sind, von Hand abgewaschen. In der Folge gehört Abwaschen immer seltener zur Ämtliliste. So kommt es, dass viele junge Erwachsene heutzutage keine Ahnung mehr haben, wie man eigentlich sein eigenes Geschirr spült. Es kann nicht schaden, das weiterhin zu vermitteln. Nur schon das Wissen, dass der Abwasch gleich nach dem Essen halb so lang dauert, wie wenn die Speisereste schon eingetrocknet sind, ist doch einfach Gold wert!