Die Warteliste von Jugendpsychologinnen und -Psychologen ist lang, psychiatrische Einrichtungen für Kinder und Jugendliche sind auf Monate ausgebucht und weitere Angebote, die Jugendlichen helfen, Krisen zu überstehen, werden rege genutzt. So berichtet die «Pro Juventute» in ihrer jüngsten Studie zur psychischen Verfassung von Jugendlichen etwa, dass der Aufwand der Beratenden bei ihrer Notrufnummer 147 seit 2019 um über 70 Prozent zugenommen hat. 12 Prozent der für die Studien befragten Menschen zwischen 14 und 25 gaben zudem an, aktuell in psychotherapeutischer Behandlung zu sein. Eine Studie von Unicef Schweiz und Liechtenstein kam ausserdem zum Schluss, dass ein Drittel der 14- bis 19-Jährigen unter psychischen Problemen leidet.
Nun werden genau in dieser Zeit des Übergangs vom Kind zum Erwachsenen die Weichen für die Zukunft gestellt. Die Teenager sollten sich entscheiden, welchen beruflichen Weg sie einschlagen möchten. Dies ist bereits für viele «gesunde» Jugendliche eine Herausforderung. Kein Wunder also, dass psychisch belastete Menschen dabei auf Unterstützung angewiesen sind. Genau das bieten die Job-Coaches der Berufsbildneria. Deren Gründerin Nicole Bussmann Cal hat zudem das Projekt «Connect» initiiert, bei dem Job-Coaches, Therapeutinnen und Therapeuten von psychiatrischen Einrichtungen sowie Fachpersonen der IV mit den betroffenen Jugendlichen und Eltern eng zusammenarbeiten.
Nicole Bussmann Cal, spüren Sie in Ihrem Berufsalltag, dass psychische Leiden bei Jugendlichen zunehmen?
Ja, als ich die Berufsbildneria vor elf Jahren gründete, wiesen ungefähr 40 Prozent unserer Kundinnen und Kunden psychische Besonderheiten auf. Heute sind es 70 bis 80 Prozent. Momentan coachen wir Jugendliche mit Ängsten, Panikattacken, Soziophobien, ADHS, Autismus-Spektrum-Störungen (ASS), Depressionen und Persönlichkeitsstörungen. Dadurch, dass immer mehr junge Menschen solche Diagnosen mitbringen, hat sich viel verändert.
Zum Beispiel?
Früher begannen wir mit der Unterstützung erst, wenn die jungen Menschen «gesund» waren. Mittlerweile beginnt unser Coaching oft, wenn sie noch in einer stationären Einrichtung oder ambulanten Therapie sind. Dies, weil die Berufsintegration heute als Bestandteil des Gesundwerdens betrachtet wird. Visionen und Ziele unterstützen die Genesung. Die Therapien und unser Coaching ergänzen sich.
«Die Berufsintegration wird heute als Bestandteil des Gesundwerdens betrachtet.»
Das heisst, junge Menschen mit psychischen Herausforderungen sollten so rasch als möglich in den ersten Arbeitsmarkt integriert werden?
Das ist das Ziel – übrigens auch jenes der meisten betroffenen Jugendlichen. Sie wollen keine Ausgrenzung oder Sonderbehandlung.
Wie gehen Sie bei der Berufsberatung dieser Jugendlichen vor?
Im Zentrum steht bei uns nicht ihre Diagnose, sondern wir fokussieren uns auf die individuellen Fähigkeiten, Bedürfnisse und beobachtbaren Funktionseinschränkungen. Wir klären beispielsweise ab, ob jemand Regeln gut einhalten kann, wie flexibel er oder sie auf Veränderungen reagiert und wie das Zeitmanagement und das Einbringen in ein Team funktionieren. Die Symptome der Krankheiten haben natürlich einen Einfluss darauf, welche Berufe wir vorschlagen. Bei einem Menschen mit einer ASS-Thematik denken wir nicht zuerst an Tätigkeiten, die höchste Sozialkompetenz erfordern. Unser Alltag zeigt aber immer wieder, wie viel möglich ist. Kürzlich erhielt zum Beispiel eine Kundin mit einer leichten Autismus-Spektrum-Störung eine Lehrstelle als Fachfrau Betreuung, da sie trotz der Diagnose den Betrieb mit ihrer empathischen Persönlichkeit überzeugen konnte.
Sollte der Lehrbetrieb wissen, welche psychische Krankheit ihrem Lernenden oder ihrer Lernenden diagnostiziert wurde?
Nein, das könnte zu Stigmatisierungen führen. Kennt der Arbeitgeber etwa aus seinem Privatleben jemanden mit der Diagnose Borderline, schliesst er gleich darauf, dass seine lernende Person dieselben Verhaltensweisen an den Tag legt und mit den gleichen Herausforderungen kämpft. Aber bloss weil man einen Menschen mit einem Borderline-Syndrom kennt, kann man nicht auf alle schliessen. Eine Diagnose allein sagt noch nicht viel über den Menschen aus. Wir thematisieren deshalb konkret, womit der betroffene Mensch im Alltag Mühe hat und worauf man im Umgang mit ihm achten sollte.
Wie reagieren die Lehrbetriebe auf diese Offenheit?
Die meisten schätzen Transparenz sehr und sind in der Lage, mit solchen Problemen umzugehen. Sprechen die Jugendlichen selbst über ihre Besonderheiten, geht der Betrieb noch gezielter und respektvoller auf sie ein. Es dient niemandem, wenn Themen vertuscht werden und zu einem späteren Zeitpunkt aufpoppen. Da verstehe ich sogar jeden Lehrbetrieb, der dann verärgert reagiert.
«Sprechen die Jugendlichen über ihre Besonderheiten, geht der Betrieb gezielter und respektvoller auf sie ein.»
Wie können die Eltern ihre Kinder bei der Berufswahl und während der Ausbildung unterstützen?
Wichtig ist, keinen Druck aufzubauen. Ich habe schon oft erlebt, dass Eltern ihre Kinder zu stark pushen – meist mit guter Absicht, weil sie sich um ihre Zukunft sorgen. Manchmal führen aber kleinere Schritte schneller zum Ziel. Es muss nicht immer sofort eine Lehre sein. Ist jemand dazu noch nicht bereit, können Überbrückungs-Angebote wie das 10. Schuljahr, ein Praktikum oder bei geringerer Belastbarkeit ein Aufbautraining mit langsamer Steigerung sinnvoll sein.
Was beinhaltet ein Aufbautraining?
Bei einem Aufbautraining lernen die jungen Menschen, an einer Arbeitsstelle Präsenz aufzubauen, ohne dass ein grosser Druck auf ihnen lastet. Das Aufbautraining kann in einem Betrieb stattfinden, in dem völlig andere Arbeiten ausgeführt werden, als dies in ihrem späteren Lehrbetrieb der Fall sein wird. Aktuell habe ich beispielsweise Jugendliche in einem Brockenhaus, in einer Hunde-Kita, einer Gärtnerei und einem Altersheim. Oft arbeiten sie zu Beginn nur 20 bis 40 Prozent, teilen das Pensum aber auf mehrere Wochentage auf. So lernen sie, regelmässig rauszugehen, den ÖV zu nutzen und sich ihren Ängsten zu stellen. Mit der Zeit erhöhen wir das Arbeitspensum. Bevor sie die Ausbildung im ersten Arbeitsmarkt beginnen, müssen sie fähig sein, 80 bis 100 Prozent Präsenz zu leisten.
Unterstützen Sie die Lernenden nach Abschluss eines Lehrvertrags weiterhin?
Ja, oft nehmen wir eine Vermittlerrolle zwischen Lernenden, Eltern, Betrieb und Berufsschule ein. Wir erklären den Beteiligten, worauf es zu achten gilt und versuchen, Ängste und Unsicherheiten zu nehmen. Zudem begleiten wir junge Menschen in ihrer Ausbildung, wenn sie das wünschen.
Die Berufsbildneria
In der Berufsbildneria in Zürich unterstützen und begleiten Jobcoaches Jugendliche auf dem Weg zur Lehrstelle. Gemeinsam wird eruiert, welche Berufe zu den Interessen, Fähigkeiten und Möglichkeiten der Jugendlichen passen. Weiter bieten die Jobcoaches Unterstützung beim Erstellen des Bewerbungsdossiers und bereiten die Jugendlichen aufs Bewerbungsgespräch vor.
Auch nach dem Unterzeichnen des Lehrvertrags steht die Berufsbildneria Jugendlichen zur Seite. Dies etwa, um sie beim Start in die Arbeitswelt und während der Lehre zu begleiten. Bei Jugendlichen mit psychischen Herausforderungen wie beispielsweise einer ADHS-Diagnose oder einer Autismusspektrumstörung können die Jobcoaches eine Vermittlerrolle zwischen Lernenden, Berufsbildnern und der Schule übernehmen – dies stets in Absprache mit den Jugendlichen.