Schon wieder nicht gewonnen im Kartenspiel! Das ist ärgerlich, schliesslich gewinnen alle Menschen gern. Wenn ein Kind sich Niederlagen jedoch sehr zu Herzen nimmt, wenn in solchen Situationen immer wieder Tränen fliessen, Türen knallen oder das Kind sogar beginnt, aus Angst vor einer Niederlage Spiele zu meiden, sollten Eltern reagieren. Frustrationstoleranz kann man nämlich trainieren. Welche vier wissenschaftlich fundierten Schritte Kindern helfen, richtige Profi-Verlierer zu werden, erklärt Nora Völker-Munro im Interview mit SI Family.
Frau Völker-Munro, ab welchem Alter sind Kinder in der Lage, Frustrationstoleranz aufzubauen?
Das Verlieren fällt manchen Menschen grundsätzlich leichter als anderen. Jedoch trägt die Entwicklung des präfrontalen Kortex im Gehirn einen wesentlichen Teil zur Emotionsregulation bei. Während der Primarschulzeit passiert hier ein wichtiger Entwicklungsschritt – es dauert jedoch bis ins junge Erwachsenenalter hinein, bis dieser Bereich im Gehirn vollständig entwickelt ist.
Manche Menschen haben aber bis ins Erwachsenenalter Mühe damit, Frust und Ärger zu managen. Woran liegt das?
Das kann verschiedene Ursachen haben. Eine Ursache kann Neurodivergenz sein. Manche Menschen mit ADHS haben bis ins Erwachsenenalter Schwierigkeiten, ihre Emotionen zu regulieren. Der Umgang mit Emotionen wird aber auch in der Familie gelernt – wenn unsere Eltern Mühe mit ihren eigenen Emotionen hatten und ihnen freien Lauf gegeben oder sie unterdrückt haben, dann ist die Emotionsregulation auch für uns im Erwachsenenalter häufig noch ein Lernfeld.
Wenn ein Kind wütend reagiert, weil es verloren hat – wie sollten Eltern auf keinen Fall reagieren?
In solchen Situationen rutschen einem schnell Sätze raus wie: «Führ dich nicht so auf, das ist doch nur ein Spiel» oder «Man muss auch mal verlieren können». Das ist mir auch schon passiert. Solche Sätze helfen einem Kind jedoch nicht, seine Gefühle zu regulieren. Im Gegenteil, sie vermitteln dem Kind das Gefühl, mit ihm stimme etwas nicht. Das greift das Selbstwertgefühl an und ist deswegen kontraproduktiv.
Welche Reaktion wäre die richtige?
Das ist eine anspruchsvolle Situation, die Geduld erfordert. Wenn ein Kind richtig wütend ist, sollte man erst einmal abwarten, bis sich die Situation beruhigt hat und das Kind wieder zugänglich wird für neue Sichtweisen. Im Moment, in dem die Wut kocht, können wir nicht viel machen, ausser tief durchatmen, da zu sein oder den Rückzug zu akzeptieren.
Und wie weiter?
Wir sollten warten, bis ein Kind wieder in seiner Mitte ist. Das muss nicht einmal am gleichen Tag sein. Dann können wir dem Kind in einem Gespräch aufzeigen, was es selbst davon hat, einen guten Umgang mit Frust oder Enttäuschung zu lernen. «Verlieren können» ist eine Kompetenz. Man kann sie lernen und stolz darauf sein, wenn man sie beherrscht. Aber das geht nicht von heute auf morgen; es ist ein Prozess, der seine Zeit braucht. Hier passt das Sprichwort: «Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht.» Eltern wie Kinder brauchen Ausdauer und Zuversicht, dass es in kleinen Schritten vorwärts geht.
Im Biber-Blog der Akademie für Lerncoaching stellen Sie vier Schritte vor, mit denen Eltern ihre Kinder in diesem Lernprozess begleiten können. Was ist der wissenschaftliche Hintergrund dieser Schritte?
Beginnen wir mit dem ersten Schritt: Man bespricht mit dem Kind, welchen Nutzen es davon hat, wenn es besser verlieren lernt. «Was hättest du davon, wenn du ein guter Verlierer wärst? Und was hätten andere davon?» Wir sind motivierter, etwas Neues zu lernen, wenn wir die «Warum»-Frage beantworten können und das Ziel mit positiven Gefühlen verknüpft ist. In einem solchen Gespräch könnten wir zum Beispiel herausfinden, dass es sich gut anfühlt, seinen Emotionen nicht hilflos ausgeliefert zu sein, dass das Spielen viel mehr Spass macht und auch andere viel lieber mit mir spielen wollen.
Schritt zwei ist: Ein Vorbild suchen. Wie hilft das?
Studien des renommierten kanadischen Psychologen Albert Bandura zeigen, dass wir am Modell besonders gut lernen. Wenn wir uns Vorbilder suchen und uns bei ihnen abschauen, wie man ein guter Verlierer wird, können wir es durch Nachahmung ebenfalls trainieren. Hilfreich ist es hier, sich Interviews von Menschen aus dem Spitzensport anzuschauen, nachdem diese eine Niederlage erlitten haben. Oftmals nutzen sie einordnende Sätze und richten den Fokus bereits auf das nächste Ziel. Das kann man mit dem Kind besprechen. Dann könnte man zum Beispiel ein Bild von Yann Sommer oder Roger Federer ins Kinderzimmer hängen, um daran erinnert zu werden, dass auch sie Niederlagen einstecken. Wer noch weiter gehen möchte, kann hilfreiche Gedanken aufschreiben, die uns helfen, mit einer Niederlage umzugehen und den Blick nach vorne zu richten.
Dann geht es darum, das Gelernte zu festigen und neue Verhaltensmuster zu trainieren. Wie funktioniert das?
Ja, das geht nur durch Üben, Üben, Üben. Das Hirn wächst und verändert sich während des gesamten Lebens. Wie das passiert, können wir bewusst beeinflussen. Neue Bahnen im Gehirn bilden sich schrittweise durch Wiederholung aus. Die Fähigkeit, ein guter Verlierer zu sein, kann man also schrittweise trainieren. Dazu überlegt man im Voraus, wie man mit einer möglichen Niederlage umgehen möchte. Eltern können ihre Kinder darauf ansprechen und sie fragen: «Wie möchtest du reagieren, wenn du heute im Spiel verlierst?» Wenn das Kind sich die Situation und die eigene Reaktion vorher zurechtgelegt hat, kann es sie im Falle einer Niederlage besser anwenden. Am besten beginnt man mit leichten Situationen (zum Beispiel einem Gesellschaftsspiel) und wendet dann diese vorausschauende Technik auch für Situationen an, in die man emotional stärker involviert ist. So wie bei anderen Fähigkeiten gilt auch bei der Emotionsregulation: Man lernt sie am besten in kleinen Schritten.
Der letzte Schritt ist Wertschätzung für Fortschritte.
Die ist wichtig. Gerade während dieses Interviews merke ich, dass mein Sohn gestern Abend gegen seinen Opa im Kartenspiel verloren hat und die Niederlage gelassen annahm. Das wäre ein guter Moment gewesen, ihm zu gratulieren. Ich werde das noch nachholen und ihm sagen, was für ein guter Verlierer er schon geworden ist! Und ich werde ihn fragen: «Wie hast du das geschafft?»