In ihrem neusten Buch «Angepasst strebsam unglücklich – Die Folgen der Hochleistungsgesellschaft für unsere Kinder» behandeln sie den enormen Leistungsdruck, den viele Kinder spüren, gerade auch von ihrem Elternhaus. Diesmal geht es um Eltern, die von ihren Kindern zu viel erwarten, anders als in ihrem Buch über die Arbeiterkinder.
Die Arbeiterkinder arbeiten aus eigenem Antrieb und haben es aufgrund ihrer Herkunft aus einfachen Sozialschichten schwerer, angemessen bewertet zu werden. Im neuen Buch geht es um den Mainstream von Eltern, die das Beste wollen für ihre Kinder, sich sehr engagieren. Darunter auch Migrantenkinder, deren Eltern wollen, dass sie erfolgreich werden und das erreichen, was ihnen selbst nicht möglich war. Mein Hauptargument ist es, mit dem Buch aufzuzeigen, was unsere Hochleistungsgesellschaft mit unserem Bildungssystem als Grundlage macht, und dass es nur funktioniert, wenn die Eltern mitmachen.
Die Eltern erzeugen den Druck also nicht von sich aus, sondern sie reagieren.
Genau, die Bildungspolitik macht es sich einfach, da heisst es immer, die Eltern würden ihre Kinder ausquetschen. Doch die Eltern merken, was von ihnen verlangt wird, und das ganze System funktioniert nur, wenn sie mitmachen und ihre Kinder unterstützen: bei den Hausaufgaben, mit Förderkursen, etc. Es gibt sogar Mütter, die ihr Arbeitspensum reduzieren, um ihre Schulkinder besser fördern zu können! Manche Eltern wetteifern regelrecht um die erzielten Wissensfortschritte ihrer Kinder.
Das macht die Schere grösser.
Das sieht man besonders an den Hausaufgaben: Ich möchte diese nicht verdammen, aber ihre hohe Bedeutung ist ein Aspekt, warum gewisse Kinder in unserem Bildungssystem benachteiligt sind.
So gesehen ist doch die vielgepriesene Chancengleichheit in der Schweiz nur ein Wunschtraum.
In der Schweiz kann jedes Kind ans Gymnasium gehen oder eine Lehre machen, alle haben die gleichen Möglichkeiten. Im weitesten Sinne herrscht also Chancengleichheit. Ich spreche aber lieber von Chancengerechtigkeit: Der Weg ins Gymnasium ist ungerecht. Arbeiterkinder haben es viel schwieriger. Wir haben Gleichheit auf dem Papier, aber die Wege sind unterschiedlich. Ich würde es so umschreiben: Unser Bildungssystem ist nicht chancengerecht.
Ein besonderes Augenmerk gilt in ihrem Buch den Überleistern, also Kindern, die dank grosser Anstrengungen mehr leisten, als man von ihnen aufgrund ihrer Anlagen erwarten würde. Wie haben sie gemerkt, hier ist eine ungute Entwicklung im Gange, hier muss sich etwas ändern?
Ich komme von der Begabungsforschung her. Dort gibt es einen gut untersuchten Bereich: die Minderleister. Diese Kinder haben hohe kognitive Fähigkeiten, sind aber unerwartet schwache Schülerinnen und Schüler. Überleister hingegen sind immer am arbeiten, um ihr Potenzial auszuschöpfen. Eltern berichteten uns, wie sie ihre Kinder immer antreiben müssen, am Familientisch dreht sich alles um die Schule. Dieser Leistungsdruck hat Auswirkungen, viele Kinder sind heute zu sehr am Limit. Die Tendenz geht zu stark in die Richtung, dass man jedes Kind formen und optimieren könne, bis es den Erwartungen entspricht. Wir müssen an die Seelen der Kinder denken, sie empfinden Druck, wenn sie merken, dass man nicht zufrieden ist mit ihrer Leistung. Und sie sind wie Seismografen, sie spüren sehr gut, was man von ihnen erwartet. In den USA gibt es einen geläufigen Begriff für die sogenannte «Überleistung»: Overachievement.
Was sagt dies über das Bildungssystem in den USA aus?
Es ist ein Ausdruck der dort herrschenden Zweiklassengesellschaft: der unteren Schicht und jener, die sich anstrengen müssen, um oben zu bleiben, dafür bekommen die Kinder viel Unterstützung, um es an renommierte Unis zu schaffen, was extrem teuer ist. In der Schweiz ist man sensibilisierter, hier herrscht auch unter Fachleuten die Ansicht, dass die Leistungsgesellschaft Grenzen hat.
Doch auch hier nimmt der Druck zu, wie sie schreiben. Wie sehr ist die Situation bei uns mit der Pisastudie verknüpft, die sie im Buch ebenfalls erwähnen?
Mit der Pisastudie 2001 haben die Leistungsvergleiche angefangen. In der Schweiz, aber auch in Deutschland und Österreich hat man damals gemerkt: Wir sind gar nicht so gut, wie wir angenommen hatten. Das hat die Bildungspolitik ziemlich erschüttert. Und daraus entstand die Idee, die Kinder in der Schweiz früher einzuschulen.
Wie beurteilen sie dies aus heutiger Sicht?
Das war ein Fehler. Wenn man Kinder früher einschult, heisst das nicht, dass sie mit 15 Jahren besser sind. Wir sehen das gut am Beispiel Frankreich: Dort werden die Kinder seit jeher sehr früh eingeschult, gehören aber in Vergleichen schon lange zum Mittelfeld. Seit der Kindergarten bei uns obligatorisch ist, hat er eine ganz andere Funktion bekommen.
Wie hat sich der Kindergarten seither verändert?
Früher nannte man ihn die «Gfätterlischule», da durften die Kinder vor allem spielen und träumen. Heute dient der Kindergarten oft der Schulvorbereitung. Die «Leistung» der Kinder wird in mehrseitigen Standortbestimmungen «gemessen» und in Elterngesprächen besprochen. Dies verstärkt den Wettbewerb, viele Eltern fühlen sich unter Druck und sehen sich als Versager, sobald ihr Kind etwas nicht kann, was von ihm erwartet wird. Eine weitere Folge der Pisastudien ist die starke Notenorientierung.
Inwiefern?
Durch die Leistungsvergleiche sind die Noten zentral geworden, ob beim Übergang in die Sekundarschule 1 oder ins Gymnasium oder bei jedem anderen Übergang, sie spielen immer eine grosse Rolle. Das erzeugt Druck und untergräbt die Motivation der Kinder, sie haben keine Freude mehr am Stoff selber. Unsere Leistungskultur heizt diese Notenorientierung extrem an. Ebenso die Akademisierung: Mittlerweile ist für so viele Abschlüsse eine Matur Voraussetzung, deshalb unternehmen Eltern alles, damit ihre Kinder in der Oberstufe nicht ins dritte Niveau kommen.
Parallel zur Pisastudie begann der Bologna-Prozess.
Seine Auswirkungen gehen in die gleiche Ausrichtung: Die Unis werden zu «Kreditanstalten», die Studierenden sammeln «Credits», die ECTS-Punkte als Leistungsnachweis. Alles ist sehr stark auf die Leistungsnachweise ausgerichtet, das untergräbt das echte Interesse der Studierenden, die Motivation aus sich selbst heraus. Dasselbe gilt für die Volksschule: Die Kinder lernen auf die Prüfungen hin – wir nennen es «Bulimielernen» – und die Eltern müssen sie dabei unterstützen.
Doch wie soll man das Ganze sonst auf einen Nenner bringen? Bei der Bandbreite an Voraussetzungen, welche die Kinder mitbringen.
Niveaus, Sprachen, Verhaltensauffälligkeiten – alles ist sehr unterschiedlich, früher gab es deshalb eine Separation, in Form von Kleinklassen und Sonderschulen, heute ist die Schule integrativ. Ich bin selber keine Spezialistin in Bezug auf Integration. Aber es gibt zunehmend Stimmen, welche diese Situation neu diskutieren wollen. Lehrpersonen erzählen, wie sie versuchen, den Unterricht zu individualisieren und mit Heilpädagoginnen zusammenarbeiten, aber den Kindern trotzdem nicht gerecht werden können. Sie müssen einen unglaublichen Spagat machen, auch wenn sie Unterstützung haben – die Zusammenarbeit mit heilpädagogischen und anderen Fachkräften muss dann auch noch geigen … Eine riesige Herausforderung, die man unterschätzt. Doch die Integration gilt als goldenes Kästchen, das man nicht antasten darf.
Ob es wieder Kleinklassen braucht, wurde vergangene Woche auch auf Radio SRF1 rege diskutiert.
In Teil 2 unseres Interviews sprechen wir mit Margrit Stamm über weitere Gründe, warum Schulkinder heute so sehr unter Druck sind, und warum immer mehr von ihnen – heute sind es bereits sechs von zehn! – eine Therapie verordnet bekommen.
In Teil 3 erklärt Margrit Stamm, wie Eltern ihre Kinder auf ihrem Bildungsweg am besten unterstützen können, und was sie sich von der Bildungspolitik wünscht.