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Allan Guggenbühl ist kein Fan genderneutraler Erziehung

«Es ist eine Ideologie, die Kindern aufgedrängt wird»

Influencerin Morena Diaz verriet vor der Geburt ihres Kindes, es habe «weibliche Geschlechtsteile». Auf Babykleidung in Rosa verzichtet sie und bleibt offen dafür, falls sich ihre Tochter eines Tages nicht mit ihrem Geschlecht identifizieren kann. Wir verraten euch, was der Experte Allan Guggenbühl über genderneutralen Erziehung denkt und wo er ihre Chancen und Schwierigkeiten sieht.

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Young pregnant mother spending time with her children in nature on a sunset. Is it a boy or a girl?

Rosa für Mädchen und blau für Jungen: Haben die gängigen Stereotype ausgedient?

Getty Images

Die Frage nach dem Geschlecht eines Ungeborenen beschäftigt nicht nur Mutter und Vater, sondern gefühlt auch das ganze Umfeld der künftigen Eltern. Alle wollen wissen, was es denn nun wird. So erging es auch Morena Diaz, 28. Die Influencerin brachte Ende August ihr erstes Kind zur Welt. Im Voraus hatte sie in ihrem Podcast «Die Lehrerin im Bikini» im Gespräch mit LGBTQ-Expertin Anna Rosenwasser verraten, dass ihr Baby «weibliche Geschlechtsteile» habe, vermied es aber, zu sagen, sie bekomme ein Mädchen.

Der Grund: Durch zwei Kommentare ihrer Fans auf Instagram habe sie realisiert, dass sie zwar die Geschlechtsteile des Babys kenne, aber eben nicht das Geschlecht. Das habe sie zum Nachdenken gebracht.  Schliesslich könnte sich das Geschlecht später noch ändern: «Ob es dann ein Mädchen bleibt oder sich irgendwann nicht mit ihren Geschlechtsteilen identifiziert, wissen wir ja noch nicht», so Diaz. Im Zuge dieser Überlegungen fiel ihr auf, wie binär das System sei – rosa für Mädchen und blau für Jungs. Sie selbst habe bei der Kleidung ihrer Tochter auf geschlechtsneutrale Stücke gesetzt: «Weiss, beige, grau – ich fahre total auf Erdtöne ab.»

 

Genderneutrale Erziehung, Kleidung und Spielzeug ist im Trend. Was aber sagt ein Experte dazu? Wir haben mit dem Psychologen Allan Guggenbühl gesprochen:

Allan Guggenbühl, mit einer geschlechtsneutralen Erziehung erhoffen sich Eltern, dass ihr Kind sich möglichst frei entfalten kann. Was denken Sie darüber?
Ganz frei entfalten gibt es gar nicht. Es gibt gesellschaftliche Vorstellungen darüber, was ein Mann oder eine Frau ist und das merken auch Kinder. Frei ist meiner Meinung nach eine Illusion, denn wir sind alle von der Gesellschaft geprägt. 

Ist es denn nicht positiv, wenn Kinder frei wählen können, womit sie spielen und was sie anziehen möchten?
Doch natürlich, das ist sogar wünschenswert. Nur erlebe ich diese Art der Erziehung in der Praxis oft als radikal. Es ist, als würden die Unterschiede zwischen den Geschlechtern geleugnet. Den Kindern wird beispielsweise verboten, mit typischem «Bubenspielzeug» oder mit «Mädchensachen» zu spielen. Kinder zeigen aber ganz früh schon, unabhängig von den Präferenzen der Eltern, was sie wollen. Und es ist nun mal so, dass Buben sehr oft zu den Autos oder Pistolen und Mädchen zu Puppen und Prinzessinnen-Sachen greifen. Dies kommt von Innen. Das Paradigma, dass die Gesellschaft alles beeinflussen kann, ist wissenschaftlich nicht haltbar.

Wieso wollen Buben denn Autos und Mädchen Puppen?
Diese Spielsachen sind Symbole dafür, was in uns verankert ist: Buben und Männer fühlen sich zu Tempo, Wagnis, Abenteuer hingezogen, Mädchen und Frauen haben eine soziale Ader, wollen sich kümmern und helfen. Das heisst aber nicht, dass das jeweils andere Geschlecht diese Interessen und Wünsche nicht auch haben kann. Es zeigt lediglich die Tendenzen.

genderdiskussion

Sie will die Puppe, er will die Puppe – und laut Allan Guggenbühl sollen beide eine bekommen, wenn sie das wünschen.

Getty Images

Welche Nachteile birgt diese Erziehungsform, wenn sie radikal umgesetzt wird? 
Es ist eine Ideologie, die Kindern aufgedrängt wird und sie widerspricht dem, wozu Kinder tendieren. In der Erziehung sollte darauf eingegangen werden, was das Kind will. Es ist falsch, einem Buben zu verbieten, mit Autos zu spielen. Ich hatte mal einen Fall, dass die Mutter dies bei ihrem Sohn tat. Darauf hin hat der Bub einfach Spielzeugautos gestohlen. Durch Verbote entwickeln sich Extreme. Jungs werden zu Machos, Mädchen zu Tussis. Das Problem sehe ich aber weniger bei den Eltern, sondern im pädagogischen Bereich.

Warum sieht die Pädagogik denn die genderneutrale Erziehung als ihre Aufgabe?
Die Pädagogik will Neues kreieren und Probleme identifizieren. Es gibt aus der Vergangenheit natürlich viele gute Errungenschaften, wie die Abschaffung der Körperstrafe. Aber es ist falsch, Kindergartenkinder davon abzuhalten, ihr Spielzeug selbst zu wählen, nur weil es einem vermeintlichen Stereotyp entspricht. Die Pädagogik entfernt sich mit diesen Methoden davon, wie Kinder eigentlich sind. Das Bild, welches oft vermittelt wird, ist, dass es in der Schweiz heute Tausende von Buben gibt, die gerne Mädchen wären und umgekehrt. Tatsächlich betrifft dies nur etwa zwei bis drei Prozent aller Kinder. 

Aus welchen verschiedenen Faktoren setzt sich denn das Geschlecht eines Menschen zusammen?
Einerseits ist da der epigenetische Faktor, also die Veranlagung oder Disposition. Hinzu kommt die Kultur. Sie entwickelt Vorstellungen darüber, wie die Geschlechterunterschiede sind. 

Allan Guggenbühl, 69, ist ein Schweizer Psychologe, Psychotherapeut und Dozent. Zu seinen Themen gehören Konfliktmanagement, Gewaltprävention, Adoleszenz, Erziehung, Männer und Buben in Ausbildung und Beruf. Guggenbühl ist Autor zahlreicher Fachbücher und Artikel. 

Und ab welchem Alter können Kinder verstehen, welchem Geschlecht sie sich zugehörig fühlen?
Das ist schwierig zu sagen. Bereits Ein- oder Zweijährige nehmen sich in ihrer Umwelt wahr und können sagen, dass sie Jungen oder Mädchen sind. Für die meisten Kinder ist die Diskussion um genderneutrale Erziehung irrelevant, weil sie sich mit ihrem Geschlecht identifizieren.

Welches sind denn die guten Seiten dieser Erziehungsform?
Lange Zeit hat die Gesellschaft die Rollen und Aufgaben nach Geschlechtern aufgeteilt. So gab es männliche Baggerfahrer oder weibliches Pflegepersonal, aber nicht umgekehrt. Mit der Genderdiskussion werden wir offener dafür, alle Aufgaben, die es in der Gesellschaft gibt, beiden Geschlechtern zugänglich zu machen.

Was wäre ein guter Mittelweg?
Eltern sollten von Anfang an auf ihre Kinder eingehen und schauen, was diese wollen und wofür sie sich wirklich interessieren. Man sollte ihnen eine Bandbreite an Angebot ermöglichen, ihnen also aufzeigen, was es alles gibt und sie dann selbst aussuchen lassen. Das kann heissen, dass Jungen mit Puppen spielen und Mädchen mit Pistolen. Oder umgekehrt. Wenn ein Kind älter wird und tatsächlich merkt, dass es sich im falschen Körper fühlt, sollten Eltern es auf der Suche nach seiner geschlechtlichen Identität unterstützen, mit allem, was dazugehört. Diese Unterstützung gilt auch, wenn ein Kind homosexuell ist. Dann auf keinen Fall entsetzt reagieren, sondern es so annehmen, wie es ist.

Von Edita Dizdar am 11. Oktober 2021 - 07:09 Uhr