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  4. Expertin spricht über die Auswirkungen der Coronapandemie auf die Gleichstellung zwischen Müttern und Vätern
Verpasst die Coronapandemie der Gleichstellung einen Schub?

«Plötzlich mussten Väter daheim tutti quanti übernehmen»

Am SRF Familien-Forum vom 19. November spricht Helena Trachsel, Leiterin der Fachstelle Gleichstellung des Kantons Zürich, darüber, wie sich Corona auf die Gleichstellung zwischen Müttern und Vätern auswirkt. Uns hat sie jetzt schon einige ihrer Ansichten verraten.

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Vater und Sohn im Home Office

Haushalt, Hausaufgabenhilfe und Home Office: Viele Väter fanden sich während des Lockdowns plötzlich in einer neuen Rolle wieder und waren an allen Fronten gefordert.

Getty Images

Nach dem Lockdown im vergangenen Frühling berichteten die Medien vor allem darüber, dass die geschlossenen Schulen, Fernunterricht und Home Office für Frauen die grössere Belastung waren als für Männer. Wie kommts, dass Familien durch Corona in traditionelle Rollenmuster fallen?
Das war nicht bei allen Paaren der Fall, bei der Fachstelle Gleichstellung des Kantons Zürich hatten wir überdurchschnittlich viele Männer in der Beratung, die am Arbeitsplatz im gleichen Pensum weiter arbeiteten, und neu zusätzlich zu Hause die Partnerin oder den Partner unterstützen mussten. Gerade in eher typisch weiblichen Berufen in Bereichen wie Pflege, Medizin, Reinigung oder Verkauf waren viele Frauen während des Lockdowns am Arbeitsplatz besonders gefordert.


Und die Männer mussten derweil ihre Arbeit ins Home Office verlegen und parallel Kinderbetreuung und Haushaltarbeit leisten. Wie konnten sie sich arrangieren?
Viele der Anrufenden realisierten nun, dass sie bis anhin noch kaum über Betreuungs- und Haushaltsleistungen verhandeln mussten. Unter den Männern, die mit uns Lösungen erarbeiten wollten, sind viele in gut bezahlen Tätigkeiten, und einige von ihnen hatten bis anhin noch nicht Teilzeit zugunsten der Betreuungs- und Haushaltarbeit gelebt. Nun mussten sie plötzlich «tutti quanti» übernehmen. Und sich überlegen, wie sie im Geschäft für alle Seiten eine tragbare Lösung aushandeln können.

Wie war das für die Männer?
Einigen davon ist es schwer gefallen. Sie mussten sich die Frage beantworten: Weshalb konnte ich meiner Partnerin oder meinem Partner und den Kindern gegenüber nein sagen, und beim Chef fällt mir dies viel schwerer?


Was gab es denn für Ideen, um alles vereinbaren zu können?
Wir erörterten zum Beispiel gemeinsam, ob sie gewisse Projekte verschieben oder einer Kollegin oder einem Kollegen übergeben konnten, oder ob es möglich war, ihr Arbeitspensum temporär zu reduzieren.


Verhandlung im Büro

Viele Erziehende mussten während des Lockdowns am Arbeitsplatz für ihre Familien einstehen und mit den Vorgesetzten vorübergehende Lösungen aushandeln, um Job und Familie gerecht werden zu können.

Getty Images/Westend61

Und wie haben die Arbeitgebenden darauf reagiert?
Ganz unterschiedlich. Häufig sind die Vorgesetzten Männer, die selbst die klassische Rollenteilung leben: Sie sind die Hauptverdienenden, ihre Frauen leisten daheim den grösseren Anteil an der Familien- und Haushaltarbeit. Manche dieser Vorgesetzten sagten dann zu ihren Mitarbeitenden, die Kinderbetreuung könne doch die Partnerin übernehmen, oder sie hatten keine Einsicht dafür, dass die Kleinen vielleicht schon um sechs Uhr morgens wach sind, und nicht einfach auf den Spielplatz können wie in «normalen Zeiten», sondern sich den ganzen Tag in der Wohnung aufhalten mussten, wo der Papa ja auch arbeiten musste. Immer wieder haben uns betroffene Männer zur Lösungsfindung eingeschaltet. Wir haben ihnen Ermächtigungsstrategien aufgezeigt, die wichtigste davon ist: Die Situation transparent machen und offen und ehrlich mit den Chefs sprechen. So wie es Frauen seit Jahrzehnten tun müssen.


Wie konnten sie weiter helfen, wenn die Arbeitgebenden auf die Vorschläge der Angestellten nicht eingingen?
Wir besprachen die Situation zum Beispiel in einer Dreierkonferenz gemeinsam mit dem Mitarbeitenden und dem Vorgesetzten. Manche hatten Bedenken, sie könnten einen Präzedenzfall schaffen, wenn sie auf unsere Lösungsvorschläge eingehen würden. Doch flexibles Arbeiten macht Arbeitgebende attraktiver! Etwa in Form von Jahresarbeitszeiten, die es ermöglichen, Arbeit vor- oder nachzuholen. Ich ging zum Beispiel im Lockdown öfter mal nachmittags joggen – dafür arbeitete ich abends, damit mich Rat suchende Erziehende anrufen konnten, sobald ihre Kinder im Bett waren. Arbeitgebende, die ihren Mitarbeitenden so entgegenkommen, werden mit Loyalität belohnt. So etwas danken Angestellte ihnen x-fach! Hier kann eine Situation wie der Lockdown eine Chance sein: Wenn beide Seiten erfahren, dass es funktioniert, können sie weiter in diese Richtung miteinander arbeiten und die Betriebskultur gar weiterentwickeln. Ich machte die Chefs auch auf den Prix Balance aufmerksam, eine Zertifizierung für Arbeitgebende mit herausragenden Bedingungen für die Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben, die wir gemeinsam mit der Partnerorganisation Great Place to Work seit 2011 vergeben. 

Das klingt ganz danach, als ob der Lockdown und die Einschränkungen der Coronapandemie der Gleichstellung der Erziehenden einen Schub verpasst hätten?
Wir können noch nicht beurteilen, wie nachhaltig sich die Verteilung der Erwerbs-, Betreuungs- und Haushaltarbeit verändern wird, dazu haben wir eine Studie in Auftrag gegeben, die uns darüber Aufschluss geben soll. Aber sicher ist: Wir hatten noch nie so viele Beratungsanfragen von Männern, die sich nun über längere Zeit allein um Kinder, Haushalt und Job kümmern mussten, währenddem zudem rundherum alle Hilfe wegfiel: Die Grosseltern durften nicht mehr hüten, ein Austausch mit anderen Familien war auch nur noch begrenzt möglich. Die Väter mussten diese Verantwortung teils völlig unvorbereitet übernehmen, bei manchen Paaren fand ein richtiger Rollentausch statt. Das war ganz ungewohnt, und führte sicher zu Diskussionen.


Familie mit Grosi

Die Wertschätzung für die Unterstützung der Grosseltern hat bei vielen Eltern zugenommen, als diese während des Lockdowns ihre Enkelkinder für einige Zeit nicht hüten durften.

Getty Images

Was für Resultate erwarten sie sonst noch von der Studie zur Nachhaltigkeit dieser Veränderungen?
Wir stellen fest, dass Arbeitgebende vermehrt flexible Arbeitsmodelle einsetzen. Paare mussten sich mit einer neuen Arbeitsteilung auseinandersetzen – beruflich wie privat. Und Vorgesetzte haben flexiblere Arbeitsmodelle kennengelernt und gesehen, was funktioniert.


Was haben ihnen die veränderten Rollen sonst noch aufgezeigt?
Sie förderten eine Wertschätzung dafür, wie wichtig die gegenseitige Unterstützung ist. Nicht nur für die Kinder sind ihre Gspändli wichtig, auch die Erziehenden sind auf Kontakte zu anderen Familien angewiesen. In der Schweiz leisten Private, und zwar immer noch mehrheitlich Frauen, unbezahlte Betreuungsarbeit im Wert von etwa acht Milliarden Franken! Dazu gehört auch die Arbeit der Grosseltern, die nun ebenfalls eine höhere Wertschätzung erfahren. Genauso all die unverzichtbaren Mitarbeitenden in den Spitälern und Altersheimen. Das ist toll, bloss beelendet es mich jetzt, wie wenig ihre Arbeitsbedingungen bis anhin verbessert wurden.


Wie sieht eine faire Aufteilung von Arbeit und Verantwortung zwischen Erziehenden eigentlich aus?
Fairness bedeutet, dass die Erziehenden gemeinsam aushandeln, wie sie die Verantwortung in Erwerbstätigkeit, Kinderbetreuung und Haushaltarbeit aufteilen. Wer hat eher die Möglichkeit und die Motivation auf ein höherprozentiges Arbeitspensum ausser Haus? Was macht steuertechnisch Sinn? Wenn beide Partnerinnen oder Partner je mindestens 70 Prozent arbeiten, ist jede und jeder einzeln besser versichert als in einem niedrigeren Pensum und kann so ein eigenes Alterskapital äufnen. Diese Überlegungen sollte jedes Paar von Beginn weg gemeinsam anstellen. Noch immer bleiben viele Themen unangesprochen, das fixiert Männer wie Frauen in ihren Rollen. Und die Arbeitgebenden sollten in ihrer Firmenkultur festlegen, dass flexibles Arbeiten auch in höheren Kaderpositionen möglich ist.


Welche weiteren Punkte zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf werden sie am SRF-Familienforum sonst noch ansprechen?
Ich bin eine Befürworterin einer gemeinsamen Elternzeitlösung. Wenn uns die Coronakrise etwas gelehrt hat, ist es, dass die Erziehenden die Verantwortung übernehmen – und diese sollte länger dauern als die zwei Wochen Vaterschaftsurlaub, über die wir eben abgestimmt haben. In einem Land wie der Schweiz mit einem hohen Anteil an unbezahlter Betreuungsarbeit wäre eine längere Elternzeit angebracht. Denn dadurch wären Frauen wie Männer lebenslang dafür gerüstet, immer wieder die Hauptrolle daheim übernehmen zu können.

Am SRF-Familienforum vom Donnerstag, 19. November, 8.45 bis 12.45 Uhr, berichten Fachleute in Referaten und Gesprächsrunden darüber, wie Schweizer Familien die Corona-Zeit meistern. Die Veranstaltung wird digital durchgeführt und von Kathrin Hönegger moderiert. Anmelden könnt ihr euch hier.

Sylvie Kempa
Sylvie KempaMehr erfahren
Von Christa Hürlimann und Sylvie Kempa am 8. November 2020 - 17:00 Uhr