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Chancengleichheit in der Erziehung

«Eltern behandeln Söhne anders als Töchter»

Wieso gibt es eigentlich so wenige Automechanikerinnen? Wir haben Genderforscherin Christa Binswanger gefragt. Im Interview erklärt sie, wie man in der Erziehung die richtige Ausgangslage für Chancengleichheit schaffen kann - und wieso Familien ganz besonders in der Schweiz immer noch daran scheitern.

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Mädchen als Automechanikerinnen

Stellt euch eine Zukunft vor, in der Mädchen sich (zu)trauen, Automechanikerinnen werden. Dann wäre wirklich viel erreicht in der Chancengleichheit der Geschlechter!

Getty Images

Frau Binswanger, wo stehen wir in Sachen Chancengleichheit zwischen Mädchen und Buben?
Seit den Siebzigerjahren hat sich viel getan. Auf der Bewusstseinsebene vieler Eltern ist angekommen, dass sie ihre Kinder gleich behandeln möchten, egal, welchem Geschlecht diese angehören. Man hält die Chancengleichheit von Buben und Mädchen für wichtig. Wir sehen das etwa in der Bildung. Heute werden Mädchen nicht mehr in erster Linie zu Hausfrauen und Müttern erzogen, sondern an den Universitäten gibt es jetzt sogar einen leicht höheren Frauenanteil.

Aber?
Es gibt widersprüchliche Tendenzen. In der Praxis behandeln Eltern ihre Söhne und Töchter immer noch oft unterschiedlich.

Wie zeigt sich das?
Wir sehen, dass bei ganz kleinen Kindern oft den Jungen unbewusst mehr Raum zugesprochen wird. Sie haben einen grösseren Bewegungsradius, dürfen sich auf dem Spielplatz weiter von den Eltern entfernen. Eltern werfen tendentiell auch die Bälle für Jungen weiter weg. Auch lassen Eltern kleine Jungs durchschnittlich etwas länger weinen und trösten kleine Mädchen etwas schneller.

«Einstein etwa hatte gemäss dieser Unterscheidung ein typisch weibliches Gehirn.»

Christa Binswanger, Genderforscherin

Könnte es nicht einfach sein, dass sich Buben genetisch bedingt halt mehr trauen und von selber weiter weg gehen?
Das würde ja heissen, die Biologie bestimme die Eigenschaften. Nein, es gibt viele Studien, die aufzeigen, dass solche Unterschiede nicht im engeren Sinne an der Genetik liegen. Bis in die Siebzigerjahre hatten viele die Theorie, Mädchen könnten nicht logisch denken und seien deswegen nicht so gut in Mathe. Unterdessen gibt es zwar Studien, die belegen, dass Gehirne typisch sein können für ein Geschlecht, dass es aber auch immer Abweichungen gibt. Einstein etwa hatte gemäss dieser Unterscheidung ein typisch weibliches Gehirn. Ich denke, dass sich Eigenschaften und Verhalten nicht am Geschlecht des Kindes ablesen lassen. Jedes Kind ist anders, egal ob Junge oder Mädchen

Wie kommt dann das gesellschaftliche Bild von wilden Buben und empathischen Mädchen zustande?
Aus einem Mix der Einflüsse: Erwartungen und Umgang im Elternhaus, im direkten Umfeld und in der Peergroup, also unter den Gleichaltrigen. Aber auch in der Schule, in der Kinder oft auf eine klare Erwartungshaltung treffen.

Wie sieht so ein Beispiel aus der Schule aus?
In einer mir bekannten Primarschule haben alle Buben blaue Ordner erhalten und alle Mädchen rote. Statt dass die Kinder einfach gefragt wurden, welche Farbe sie auswählen möchten. Ein Mädchen, das ich kenne, wollte auch einen blauen Ordner. Die Lehrkraft wies das aber zurück. Das heisst, die Lehrkraft bestärkte mit ihrer Forderung, dass alle Mädchen die gleiche Farbe zu mögen haben, die Geschlechterdifferenz. Alle Kinder einer Geschlechtergruppe hatten sich hier zu fügen und durften nicht davon abweichen. Solche Alltagshandlungen und -erwartungen ergeben eine komplexe Lage, die Kinder in der Schweiz oft dazu bringt, sich sehr geschlechtertypisch zu verhalten.

«Das Beste ist, man liest die Eigenschaften des Kindes nicht durch die Geschlechterbrille.»

Christa Binswanger, Genderforscherin

Wo fällt Ihnen das besonders auf?
Ganz besonders in der Berufswahl. Nur 3 Prozent der Jugendlichen wählen einen geschlechtsuntypischen Beruf. Kaum ein Mädchen wird Automechanikerin, kaum ein Junge Praxisassistent.

Was können Eltern tun, um ihre Kinder zu mehr Chancengleichheit zu erziehen?
Das Beste ist, man stärkt das Kind in den Eigenschaften, das es mitbringt und liest diese Eigenschaften nicht durch eine Geschlechterbrille. Wenn Kinder mit ihren Interessen von typisch weiblichem oder typisch männlichem Verhalten abweichen, sollten wir sie darin unterstützen. Studien zeigen, dass Mädchen zum Beispiel bis im Alter von elf Jahren gut in Mathe sind, dann jedoch plötzlich schwächer werden. Die Erklärung ist einfach: Mathe gilt nicht als weiblich, also „lohnt“ es sich nicht mehr, in Mathe zu investieren.

Wie viel Einfluss haben die Eltern da überhaupt neben Schule, Gesellschaft, Werbung und so weiter?
Das lässt sich nicht mit einer Zahl beziffern, zumal nicht nur Kinder verschieden sind, sondern auch Eltern. Die Bildungsnähe der Eltern ist sicher relevant. Aber auch ihre Erwerbstätigkeit. Hier sind viele Schweizer Familien noch konservativer unterwegs als in anderen Ländern Europas. 

«Die Länder in der EU verfolgen eine intensivere Gleichstellungspolitik.»

Christa Binswanger, Genderforscherin

Hinkt die Schweiz in der Chancengleichheit also der EU hinterher?
Eindeutig. Gerade die Länder in der EU verfolgen eine intensivere Gleichstellungspolitik. Einen starken Effekt sehen wir auch in den nordischen Ländern, wo seit fünfzig Jahren Elternförderung betrieben wird. Dort haben Kinder ganz andere Rollenvorbilder als bei uns. Ihre Eltern sind viel öfter beide berufstätig - und zwar oftmals in vergleichbar hohen Pensen. So ist die Hausarbeit viel egalitärer aufgeteilt. In der Schweiz sind konservative Modelle noch die Norm, da die Mehrzahl der Mütter in relativ kleinen Teilzeitpensen arbeitet. Ein Grund ist hier die konservative Familienpolitik.

Sehen Sie, dass sich seit dem Frauenstreik 2019 etwas verändert?
Sicher sehr positiv ist der enorme Frauenanstieg im Nationalrat. Dass die Parteien ihren weiblichen Kandidatinnen Listenplätze gegeben haben, um deren Chancen zu erhöhen, ist erfreulich. Das Thema Gleichstellung steht wieder auf der Agenda. Dennoch muss in der Familienpolitik noch viel passieren. Familien in der Schweiz werden im Vergleich zu anderen europäischen Ländern wenig unterstützt. Bei uns dauern politische Prozesse zur Familienförderung erfahrungsgemäss lange. Wir waren schon mit dem Mutterschaftsurlaub spät und bemessen ihn knapp, nun diskutieren wir intensiv über zwei Wochen Vaterschaftsurlaub – wo in Schweden drei Monate gewährt werden. Aber mir gefällt, dass die Debatten wieder laufen! Und nächstes Jahr feiern wir 50 Jahre Frauenstimmrecht. Da wird’s wieder viele Aktionen geben und einiges in Bewegung bleiben.

 

Christa Binswanger

PD Dr. Christa Binswanger ist Leiterin des Fachbereichs Gender und Diversity an der Universität St. Gallen.

ZVG
Sylvie Kempa
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Von Sylvie Kempa am 5. März 2020 - 12:11 Uhr