Maria ist elf, sie kommt nach den Sommerferien in die sechste Klasse und steht mit dem Schulfach Französisch auf Kriegsfuss. «Würde beim Hochfahren mit dem Seilbähnli mein Franzbuch aus der Transportbox in den Abgrund stürzen – ich wär nicht traurig.» Ihr Bruder Silvan ist 13, kommt in die siebte Klasse und teilt Marias Einstellung zu besagtem Lehrmittel. «Am besten wär, mein Buch fällt grad hinterher.»
Es ist der erste Dienstag im Juni, als Maria und Silvan ihre Schulsachen packen. In zwei Plastikboxen in Bananenschachtelgrösse stapeln sie Bücher, Hefte, Etui, Ordner sowie die schriftlichen Anweisungen ihrer Lehrer. Die Schulboxen (dazu viele andere Kisten mit Hausrat, vier Hühner und sieben Schweine) werden am Nachmittag mit einem simpel konstruierten, offenen Transportbähnli, das nur für Waren und Tiere gebaut und erlaubt ist, auf den Berg hochgeseilt. Ihre Sachen für Mathematik, Englisch und Deutsch haben Maria und Silvan mittlerweile satt verstaut. Zuoberst in beiden Boxen liegt das Französischbuch. Für den buchstäblichen Fall der Fälle.
Jedes Jahr Anfang Juni zügelt Bauernfamilie Waber aus Sigriswil BE mit Tieren und Kindern von ihrem hoch über dem Thunersee gelegenen Hof auf die Alp Underbärgli. Und bauert und käst und bleibt dort bis Anfang Oktober. Das Problem, dass die Kinder während der Alpsaison längere Zeit in der Dorfschule fehlen, lösen Wabers seit drei Generationen auf pragmatische Art: Sie holen die Schule auf ihre Alp.
In Form einer Lehrerin.
Einen Monat später. Alp Underbärgli auf 1676 Metern Höhe. Wer aufs Sigriswiler Rothorn wandert, kommt hier vorbei. Und wird von einem roten Täfeli gewarnt: «Liebe Wildcamper. Die Alpweide wird in der Nacht vom Stier beweidet!» Das Underbärgli ist ein 1750 errichtetes Holzhaus mit Holzfeuer-Käserei und Kuhstall, etwas abseits thront ein WC-Holzhüsli mit Plumps-Sound, Solarlampe und Duftspray. Vom unzimperlichen Alltag zeugt auch der Fliegenvorhang vor der offenen Haustür. Statt Perlenbänder plampen hier massive Eisenketteli.
Maria und Silvan drücken die Schulbank – die hier tatsächlich eine Bank ist. Die Kinder sitzen am Stubentisch der Alphütte, draussen hockt der Nebel. Das Licht ist diffus, es riecht nach Käse, Holzfeuer und Kuhstall. Maria, über das Rechenheft gebeugt, arbeitet am Kapitel «Zahlen mit Komma». Silvan, am roten Bleistiftende kauend, hirnt derweil an «Rechnen mit und ohne Komma» herum. «Noch fünf Minuten, dann machen wir grosse Pause», verkündet die Lehrerin. Die man hier duzen darf. Nina Liv Liechti, 42.
Die Primarlehrerin und Betriebsökonomin arbeitet als Bildungsverantwortliche für die Unesco-Biosphäre Entlebuch und ist Co-Leiterin des Naturfreundehauses in Grindelwald. «Und jeden Sommer bin ich Alp-Lehrerin hier oben.» Unter dem Hüttendach, grad über dem Raum, wo der Käse reift, hat Liechti ihre Schlafkammer. Mit einer «Herzlich willkommen»-Kinderzeichnung an der Tür, einer Matratze am Boden und einem taschenbuchgrossen Spiegel an der Wand. Strom gibts nur, wenn die Sonne die Solarzellen reizt oder Bauer Res Waber für die Melkanlage den Dieselgenerator anwirft.
Heuer ist Ninas siebte Saison als Stör-Lehrerin auf dem Underbärgli. «Das Leben und Lehren hier oben ist schon speziell», sagt sie. «Entbehrungsreich, doch dafür ruhig und urchig.» Sie trägt Flipflops, Wanderhose und eine ins Haar gesteckte Sonnenbrille – «für den Fall, dass sich der Nebel heute noch verzieht». Dann würde sie drum nach Schulschluss noch schnell «es Tüürli» aufs Rothorn machen. Auf Ninas Fleecejacke steht «Peak Performance». Höchstleistung.
Grosse Pause. Maria und Silvan stürmen ins Freie. Lehrerin Liechti flipflopt hinterher – «pflichtbewusst zur Pausenaufsicht», sagt sie mit dem ironischen Unterton einer Pädagogin, die sämtliche Lehrerwitze kennt.
In einem weiten Pferch suhlen sich sieben Säue, die Hühner und Hasen bewegen sich frei. Weswegen ein Mäusebussard und ein Steinadler kulinarisch interessiert über der Alp kreisen.
Auf der Weide grasen 20 Kühe (fünf gehören Wabers, die anderen sind zu Gast), beaufsichtigt von Gallus, einem bulligen, aber eher kleinen Stier, der sowohl bei Mensch wie Vieh als leicht verrückt gilt. Er scharrt mit den Hufen, wiegt den Kopf, als sei er besoffen, möögget wie ein Tubel und pöbelt eine der Damen in der Herde an, die dem Muni aber mit Horneinsatz die Stirn bietet. Worauf Gallus sein Phallusgehabe bei der nächsten Braut probiert.
«Wenn wir nach dem Alpsommer wieder in die Regelklasse gehen, sind wir mit dem Stoff weiter als unsere Kameraden.»
Maria Waber
Die Pause ist vorbei. Lehrerin Liechti lässt den Schulkindern die Wahl: Sport oder Französisch (Geografie und Naturkunde gibts hier oben sowieso nonstop dazu). Maria rollt mit den Augen. «Alles, nur nicht Französisch!» Als Turnhalle dient die Alpweide, was grad so rumsteht, wird zum Sportgerät. Der Elektro-Kuhdraht fungiert als Hürde, Holzscheite sind Slalomstangen, und die Bürstenanlage, an der sich das Vieh kratzt, dient als Volleyballnetz. Nina Liechti lässt ihre Kleinklasse beim Herumturnen Deutschwörter buchstabieren und beim Spiel mit dem Ball («We count in English!») auf Englisch die Punkte zählen.
So geht Denksport.
Zum Zvieri sitzt die ganze Alpfamilie bei Sirup, Kaffee und Bretzeli. Während Liechti die Mathe-Hefte korrigiert und die Kinder auf dem Handy ihre Gspänli im Tal grüssen, erzählt Bauer Res Waber, 46, wie auch er als Bub, ja sogar schon sein Vater, während der Alpzeit von einer Stör-Lehrerin unterrichtet wurde. Das habe immer prima funktioniert, man sei jedenfalls nicht dümmer herausgekommen als andere.
Maria und Silvan sind gar der Meinung, sie bekämen hier oben einen Vorsprung auf die Talschule. «Jedes Mal, wenn wir nach dem Alpsommer wieder in die Regelklasse gehen, sind wir mit dem Stoff weiter als unsere Kameraden», sagt Maria. Das bestätigt die Lehrerin: Mit nur zwei Schülern bringe sie den Stoff schneller voran, zudem könne sie fokussierter und spezifischer auf Lücken eingehen. «So gesehen profitieren Maria und Silvan enorm von der Alp-Zeit.» Gleicher Meinung war auch die Schulinspektorin, die letzthin extra auf die Alp stieg, um sich ein Bild vom ungewöhnlichen Unterricht zu machen.
Statt Hausaufgaben gibts jeden Abend Biologieunterricht. Zwangsläufig. Die Kinder helfen beim Melken der Kühe und Geissen, füttern Schweine, hirten die Hasen und Hühner. Ein Huhn namens Fräulein Marty (das altershalber keine Eier mehr legt) erweist sich als Dressurwunder, ihre rabiate Artgenossin Lucy hingegen hat schon Wanderer gepiesackt. Mutter Ruth Waber, 51, schnallt sich einen Melkschemel um, massiert die Kuheuter und pfeift dazu. «Little Drummer Boy». Ein Weihnachtslied? «Jo dänk, weil das Leben hier oben so schön ist wie die Adventszeit.»
Nach der Stallarbeit streichelt Maria ihre Hasen und das Handydisplay, Silvan liest ein Buch («kein Kinderbuch, ein Psychothriller»), und Nina erhält ihren Lehrerinnen-Lohn. Sie arbeite auf der Alp aus Idealismus, weils Spass macht, für freie Kost und Logis, ein besseres Sackgeld – und wegen der Weiterbildungskurse.
Heute: Geissenmelken.
Ruth Waber bringt es ihr bei, erklärt und macht vor. Am Ende hat Nina einen Kübel schaumwarmer Geissenmilch «und Muskelkater in den Fingern».
Währenddessen hat Res 160 Liter Kuhmilch in flache Stahlbecken geleert, wo sie über Nacht abkühlt und morgen früh verkäst wird. Zum Znacht gibts selbst gebackenes Brot, selbst geschlagenen Anke, selbst gekochte Konfi, selbst produzierten Alpkäse. Dazu erzählt man sich Geschichten. Auch die herzhaft selbst gemacht.
Um halb zehn ist Schlafenszeit, früh zu Bett, früh wieder auf. Am Küchenschüttstein putzt man Zähne, Hände und Ohren. Die Wasserversorgung auf der Alp ist ein Problem, es gibt keine Quelle, nur Regenwasser. Das bedeutet sparen. «Bonne nuit, Maria», zündeln wir Besucher. Maria schaut uns so finster an, wie die mondlose Nacht werden wird.
Tagwache ist vor fünf, die Landschaft noch farblos, der Nebel von gestern hat sich verzogen. Ruth («chomm, sässässä») und Res («hoihoi, hoiii, hoihoi») zeukeln das Vieh von der Weide in den Stall und melken es. Die Milch wird zusammen mit der kühlen von gestern Abend in ein Kupferkessi gegossen. Aus 300 Litern Milch fabriziert Res Waber 30 Kilo Alpkäse. Am Ende des Sommers werden zweieinhalb Tonnen Käse im Regal reifen.
Was heute Morgen beim Käsen übrigbleibt, wird verteilt. An den kleinen Käsebruch-Resten kerben die Kinder, die Molke wird an die Schweine verfüttert – und Lehrerin Liechti angeboten. Als Fussbad. «Ein weiterer Bestandteil meines Lohns.» Sie pflotscht, spreizt ihre Zehen und wundert sich über das Huhn, das aus dem Molkefussbad frühstückt.
Um neun beginnt der Unterricht. Heute am Tisch im Freien. In welcher anderen Schule würden Schüler mit Sonnenbrille toleriert? Leckfreches Braunvieh als Zuschauer geduldet? Und die Bleistiftspitz-Abfälle blitzschnell von Hühnern aufgepickt? Erst Mathematik, danach Deutsch. Schliesslich – Maria und Silvan stöhnen – doch noch Französisch. Die Bücher haben den Seilbahn-Transport schadlos überstanden.
Während der grossen Pause nähern sich drei Wanderer. Wabers führen ein Besenbeizli mit Getränk und Zvieriplättli. Maria heisst die Gäste willkommen. Diese grüssen zurück. Auf Französisch. Genfer. Marias Augen weiten sich, sie schluckt leer, sagt tapfer «Bonjour» – dann hat sie ganz dringend im Stall zu tun.