Die oberste Lehrerin der Schweiz spricht sich gegen Schulnoten auf Primarstufe aus. Laut Dagmar Rösler suggerieren Noten eine Scheingenauigkeit. «Eine Zahl sagt nichts darüber aus, was gut war gegenüber dem letzten Mal, wo ich wie viel dazugelernt habe. Es ist immer auch lediglich ein Vergleich innerhalb der eigenen Klasse. In einer leistungsstarken Klasse ist eine schlechte Note weniger schlecht als in einer schwächeren Klasse.» Der Wirtschaftsdachverband Economiesuisse findet Schulnoten ebenfalls nicht aussagekräftig für die Berufswelt. Und auch viele Eltern finden Benotung überflüssig. Wie ein Bericht, der dem «Blick» vorliegt, zeigt, würde gut die Hälfte der Eltern von Primarschulkindern Noten gerne abschaffen.
Nicht alle Schülerinnen und Schüler kriegen Noten
In der Schweiz ist die notenfreie Schule bereits für viele Primarschüler Realität. Die Kantone geben vor, ab welchem Schuljahr Leistungen in Zeugnisnoten ausgedrückt werden. In den meisten Kantonen ist dies zwischen dem 3. und 6. Schuljahr der Fall.
Werden keine Zeugnisnoten ausgestellt, kommen Lernberichte ohne Noten oder andere Beurteilungsverfahren zur Anwendung. Über die Bewertung zwischen den Zeugnissen entscheiden die Schulen oder Schuleinheiten individuell. Die Stadt Luzern wird ab Sommer 2027 ein neues Bewertungssystem einführen, in dem sämtliche Primar- und Oberstufenschulhäuser zwischen den Zeugnissen auf Testnoten verzichten.
Ist das die Lösung? An dieser Frage scheiden sich die Geister. Wir geben Sandra E., einer Mutter, die sich als klarer Fan von Noten outet, die Möglichkeit, sich zu erklären.
Eine Mutter erklärt, wie sie Schulnoten interpretiert
«Ich bin Mama zweier Kinder. Sie besuchen die 4. und 7. Klasse in einer Berner Gemeinde und beide haben seit der 4. Klasse Schulnoten erhalten. Und ich muss zugeben: Ich mag Schulnoten. Obwohl meine Kinder bei Weitem nicht nur Bestnoten schreiben. Da waren auch schon Ungenügende dabei und einzelne Noten fand ich nicht gerechtfertigt. Dennoch schätze ich Schulnoten, denn sie geben mir Orientierung.
Wie das funktioniert, erkläre ich gerne. Ich habe meinen Kindern beigebracht, dankbar zu sein, wenn sie eine nicht so überragende Note erhalten. Denn diese zeigt ihnen auf, wo sie noch Wissens- oder Verständnislücken haben. Wie praktisch, dann weiss man genau, wo man ansetzten muss, um besser zu werden!
«Dass viele Eltern aus einer 4 ein Drama machen, ist Teil des Problems»
Und so lese ich Schulnoten: In der Schweiz ist die 6 die beste Note. Alles unter einer 4 ist ungenügend. 4 heisst genügend, wird jedoch in vielen Familien als schlechte Note wahrgenommen. Warum eigentlich? Meine Kinder und ich feiern jede 4. Denn genügend steht für genug aka ausreichend, hinlänglich, niemand kann sich beklagen. Eine 4 bedeutet, so habe ich es meinen Kindern erklärt, dass man die Grundzüge des Themas, welches abgefragt wurde, verstanden hat. Ziel erreicht.
Aber ich weiss auch, dass Noten in vielen Familien anders verstanden werden. Dass die 4 einem Kind oft Kritik einbringt und den Eltern Sorgen macht. Und ich glaube, Schulnoten würde der Schrecken genommen, wenn Eltern daraus nicht so ein Drama machen würden, sondern Noten als Kompass wertschätzen lernten.
Dazu eine Anekdote: Als einmal ein Kind während des Mittagstischs bei mir wegen einer 4 weinen musste, sagte meine Tochter: «Du bist nicht deine Note!» Diese Gewissheit zu vermitteln, ist Pflicht der Eltern. Eine 4 ist einfach eine 4 – nichts weiter. Im besten Fall sieht man sie als Geschenk: An ihr kann man erkennen, dass das bereits Gelernte einen genügenden Stand erreicht hat. Und dass man jetzt nur noch einzelne Lücken füllen muss, um ein solides Fundament für künftigen Schulstoff zu bauen.
Da sind meiner Erfahrung nach die Eltern gefragt, denn in der Schule bleibt dafür oft keine Zeit. Der Lehrplan ist straff durchstrukturiert. Nach dem Test wartet schon das nächste Themengebiet. Allerdings wiederholt der Lehrplan Themen auch immer wieder – auf höherem Niveau im nächsten Schuljahr oder sogar im nächsten Zyklus. Es ist deswegen wichtig, Lücken nicht einfach stehen zu lassen.
Auch bei einer 4,5 schaue ich als Mutter noch genau hin, wo ich mein Kind unterstützen kann. Ab einer 5 aufwärts sehe ich keinen Handlungsbedarf. Hier wurde ein Thema vielleicht noch nicht vollständig, aber mehr als zur Genüge begriffen. 5,5 ist in meinen Augen sowieso eine 6 mit Flüchtigkeitsfehlern. Ihr seht: Testnoten sind für mich keine umfassenden Aussagen, sondern eher Richtungsangaben auf einem Kompass. Sie geben Auskunft darüber, wo ein Kind in einem bestimmten Thema steht und wo es das Elternhaus zur Unterstützung braucht.
Aber – ich habe es mit dem Wort Testnoten schon angekündigt: Während alle von Schulnoten sprechen, müsste man meiner Meinung nach unbedingt zwei gesonderte Diskussionen führen. Die über Testnoten und die über Zeugnisnoten. Ich würde es genau anders machen, als es in der Stadt Luzern vorgesehen ist: Ich würde zur Orientierung weiterhin Testnoten einsetzen, aber im Zeugnis darauf verzichten oder wenigstens differenzierter beurteilen.
«Ich bin ein Fan von Testnoten, nicht aber von Zeugnisnoten»
Denn, das gebe ich zu, ich bin ein Fan von Testnoten. Obwohl sie nicht bei jedem Kind gleich aussagekräftig sind – da hier auch noch Aspekte wie Prüfungsangst dazu kommen. Aber wollte man das berücksichtigen, dann müsste man die Testerei als Ganzes infrage stellen. Aber in diesem Text gehts ja nicht um Lernstandskontrollen, sondern darum, in welcher Form deren Ergebnisse ausgedrückt werden.
Zurück zum Thema also: Zeugnisnoten sind ein ganz anderes Kaliber als Testnoten. Wie der Wirtschaftsdachverband Economiesuisse in seiner Forderung nach einem einheitlichen und differenzierten Benotungssystem korrekt anmerkt, kann man den Zeugnisnoten herzlich wenig über die Stärken einer künftige Mitarbeiterin oder eines künftigen Mitarbeiters entnehmen. Eine 5 in Mathe hat überhaupt keine Aussagekraft darüber, wo die Fähigkeiten des Kindes angesiedelt sind. Vielleicht hat es in Algebra eine 4 und in Geometrie eine 6? Auch eine 4 in Deutsch sagt wenig aus, denn ein Kind mit Rechtschreibschwäche kann ein hervorragendes Textverständnis haben. Ausserdem zählen in einem Betrieb überfachliche Kompetenzen, Lernwille, Motivation und Teamfähigkeit so viel mehr.
«Noten sind nicht böse. Aber eben auch nicht umfassend aussagekräftig.»
Zusammengefasst meine ich: Noten sind nicht böse. Aber eben auch nicht umfassend aussagekräftig. In einem Schulsystem, das an seinen Belastungsgrenzen läuft, tun sie ihren Dienst als Kompass, der grob die Richtung vorgibt. Sie lassen mich als Mutter eine einfache Triage vornehmen: Hier braucht es meine Hilfe, dort nicht. Noten können ausserdem auf Kinder motivierend wirken, denn wer freut sich nicht über gute Noten. Ganz besonders, wenn dafür Lernaufwand betrieben wurde.
Was Schulnoten nicht können: Die Stärken und Kompetenzen eines Kindes ganzheitlich erfassen und objektiv beurteilen. Als alleinige Entscheidungshilfe bezüglich wichtiger Übertritte zum Beispiel, halte ich sie für ungeeignet. Sie geben nicht unbedingt Auskunft über die Intelligenz eines Kindes und nur zu einem gewissen Teil über seinen Fleiss. Auch über den Wissensstand können sie nur dann Aufschluss geben, wenn dieser allfälligen besonderen Bedürfnissen entsprechend erhoben wurde. Noten gehören meiner Meinung nach jedoch nicht abgeschafft, sondern ergänzt. Und dass sie jetzt schon in der Unterstufe in vielen Kantonen noch nicht zum Einsatz kommen, dünkt mich vernünftig. Dort geht es noch nicht um Leistungsmessung, sondern in erster Linie darum, Neugierde und Lernfreude zu kultivieren.»