Zwischen 2018 und 2022 hat der Suchtmittelkonsum bei den Jugendlichen teilweise zugenommen, teilweise bleibt er auf einem zu hohen Niveau. Auch zeigt sich immer häufiger eine problematische Nutzung von sozialen Netzwerken und digitalen Angeboten. Das zeigt das Schweizer Suchtpanorama 2024. Im Gespräch mit der Schweizer Illustrierten ordnet Monique Portner-Helfer von der Stiftung Sucht Schweiz die Ergebnisse ein und erklärt, dass suchtrelevantes Verhalten oft schon früh in der Kindheit seinen Ursprung hat
Monique Portner-Helfer, welche Zahlen aus dem aktuellen Suchtpanorama haben Sie am meisten überrascht?
Es sind mehrere Ergebnisse, die aufhorchen lassen. Zum Beispiel der Alkoholkonsum: Ein Viertel der 15-Jährigen hat sich in den letzten 30 Tagen vor der Befragung mindestens einmal betrunken, wobei auch jeder und jede sechste 13-Jährige in diesem Zeitraum Alkohol konsumiert hat. Bei den 13-Jährigen hat der Alkoholkonsum im Vergleich zur Erhebung von 2018 zugenommen. Beim Tabak- und Nikotinkonsum zeigen sich in beiden Altersgruppen besorgniserregende Entwicklungen: Sechs Prozent der 13-Jährigen haben mindestens einmal im vergangenen Monat geraucht, was im Vergleich zu 2018 eine Verdoppelung darstellt. Und etwa ein Drittel der 15-Jährigen haben in den 30 Tagen vor der Befragung mindestens ein Tabak- oder Nikotinprodukt konsumiert. Besonders auffällig ist der Anstieg beim Gebrauch von E-Zigaretten. Das ist leider nicht überraschend.
Warum nicht?
Diese Produkte werden intensiv und mit verlockenden Parolen beworben, sie haben ein verspieltes, stylisches Erscheinungsbild, und wegen mangelhafter Regulierung konnten sich E-Zigaretten in den vergangenen Jahren etablieren.
Beeinflusst der Anstieg bei den E-Zigaretten den herkömmlichen Tabakkonsum?
Nein. Besorgniserregend ist nicht nur, dass Kinder das Dampfen für sich entdeckt haben, sondern auch, dass dies keinen Rückgang im konventionellen Zigarettenkonsum ausgelöst hat. Insbesondere bei Mädchen zeigt sich ein starker Anstieg im E-Zigarettenkonsum.
«Jedes zehnte Mädchen zeigt aktuell eine problematische Nutzung von sozialen Netzwerken.»
Monique Portner-Helfer
Jugendliche Mädchen fallen auch im Online-Bereich auf.
Tatsächlich zeigt jedes zehnte Mädchen eine problematische Nutzung von sozialen Netzwerken. Das sind deutlich höhere Zahlen als bei den Jungen. Zu beobachten ist auch, dass etwa die Hälfte der 15-Jährigen oft die sozialen Netzwerke genutzt haben, um vor negativen Gefühlen zu flüchten.
Was versteht man unter einer problematischen Nutzung?
Die Nutzung von sozialen Netzwerken ist dann problematisch, wenn zum Beispiel ein Kind seine Eltern oder andere Personen diesbezüglich anlügt oder daran scheitert, weniger Zeit in den sozialen Netzwerken zu verbringen. Aber auch, wenn man als einzige Lösung zur Regulierung von Gefühlen wie Traurigkeit, Wut oder Einsamkeit die Flucht in die sozialen Netzwerke kennt.
Ist das schon eine Sucht?
Eine problematische Nutzung kann in eine Sucht münden. Eine solche bedarf aber einer klinischen Diagnose. Die Internationale Klassifikation der Krankheiten (ICD-11) der Weltgesundheitsorganisation erwähnt seit 2019 explizit die Videospiel-Nutzungsstörung sowie die Glücks- und Geldspielnutzungsstörung. Eine problematische Nutzung von sozialen Netzwerken wird nicht als Suchterkrankung definiert. Dennoch kann es schwierig werden: Wenn Kinder wegen der sozialen Netzwerke andere Interessen vernachlässigen, wenn sie sich aus dem realen sozialen Leben zurückziehen oder die schulischen Leistungen plötzlich nachlassen, dann sind das Alarmzeichen.
Warum fallen Mädchen im aktuellen Suchtpanorama so deutlich auf?
Es ist denkbar, dass Mädchen andere Bewältigungsstrategien haben als Jungen und dass soziale Netzwerke eine grössere Rolle spielen. Sie nutzen sie auch häufiger. Eine Hypothese ist, dass Mädchen ihr Wohlbefinden kritischer reflektieren oder sich eher trauen zu sagen, wenn es ihnen nicht gut geht. Auf jeden Fall erhöht eine schlechtere psychische Verfassung das Risiko für Substanzkonsum.
«Eltern sollten sich mit der Internetnutzung ihrer Kinder auseinandersetzen, konsumierte Inhalte erfragen und die kritische Wahrnehmung schulen.»
Monique Portner-Helfer
Sozialer Rückzug, Probleme bei der Gefühlsregulation und andere Interessen – das klingt nach ganz normalen Teenagern. Wie erkennen Eltern den Unterschied zwischen Pubertät und Problem?
Das stimmt. Gerade, wenn es um die sozialen Netzwerke geht, haben Jugendliche teils auch gute Gründe, diese zu nutzen. Es geht darum, eine Identität aufzubauen, sich auszutauschen und zu vernetzen. Das alles ist wichtig für Teenager. Nichtsdestotrotz sollten Eltern sich mit der Internetnutzung ihrer Kinder auseinandersetzen, konsumierte Inhalte erfragen und die kritische Wahrnehmung schulen. Es ist wichtig, über realitätsfremde Schönheitsideale zu sprechen und das vermeintlich bessere Leben anderer als Fassade zu entlarven. Denn beides kann bei Kindern das Gefühl auslösen, nicht mithalten zu können, was das psychische Wohlbefinden beeinträchtigen kann.
Vielen Eltern fällt es schwer, sich in die Cyberwelt ihres Kindes einzudenken.
Dennoch ist es wichtig, im Auge zu behalten, was das Kind online tut. Hinschauen, sich informieren, Fragen stellen. Selbst wenn einen technische Dinge oder Online-Inhalte nicht interessieren, interessiert man sich doch für das eigene Kind.
Wie und ab welchem Alter können Eltern das Suchtverhalten ihrer Kinder beeinflussen?
Klar spricht man mit einem jüngeren Kind vielleicht noch nicht gezielt über Alkohol und Tabak. Aber man lebt den Umgang damit vor. Es ist wichtig, informiert zu sein, das eigene Verhalten zu reflektieren und sich der Vorbildrolle bewusst zu sein, die man lebt. Wie geht man mit Suchtmitteln zuhause um? Ist Alkohol ein zentrales Element im eigenen Leben? Was lernt das Kind aus meiner Handy-Nutzung? Zentral ist auch, Regeln zum Umgang mit Substanzen aufzustellen und deren Einhaltung sicherzustellen.
Und was ist mit dem psychischen Wohlbefinden, das sich als suchtrelevant herausstellt?
Sowohl Schulen als auch Eltern tragen dazu bei, die sozialen Lebenskompetenzen eines Kindes zu fördern. Dabei geht es darum, das Kind respektvoll wahrzunehmen und seine Interessen zu unterstützen sowie seine Bedürfnisse zu stärken. Diese Förderung beginnt bereits in jungen Jahren. Ein gesundes Vertrauensverhältnis ist hierbei besonders wichtig. Kinder sollten das Gefühl haben, dass sie bei ihren Eltern immer eine Anlaufstelle haben. Außerdem ist es wichtig, dass Eltern auch dann Interesse zeigen und signalisieren, dass sie für ihre Kinder da sind, wenn diese älter werden. Auch können Eltern ihren Kindern frühzeitig helfen, gesunde Strategien im Umgang mit negativen Emotionen zu entwickeln. All diese Massnahmen wirken sich generell förderlich auf die Gesundheit aus und haben auch präventive Wirkung im Hinblick auf potenzielles Suchtverhalten.
So geht Suchtprävention in der Erziehung
Zur Unterstützung von Erziehungsberechtigten und Eltern bei der Suchtprävention bietet die Stiftung Sucht Schweiz neun Elternbriefe zum Download an. Sie bieten Informationen zu Themen, die für die im Alltag eine wichtige Rolle spielen und beantworten die wichtigsten Elternfragen zum Thema Sucht.