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  4. Margrit Stamm über die Folgen der Hochleistungsgesellschaft für unsere Kinder
Folgen der Hochleistungsgesellschaft

«Sechs von zehn Schulkindern werden therapiert»

Im zweiten Teil unseres Interviews mit Margrit Stamm spricht die Erziehungswissenschaftlerin über die Gründe, warum Schulkinder heute so sehr unter Druck stehen, und warum immer mehr von ihnen eine Therapie verordnet bekommen.

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Gruppe von Kindern

Wer ist «normal»? Immer mehr Kinder bekommen eine Therapie verschrieben, weil sie in einem bestimmten Bereich nicht der festgelegten Norm entsprechen.

Getty Images

Den ersten Teil unseres Interviews schlossen wir mit den Herausforderungen ab, die unser integratives Schulsystem mit sich bringt. Parallel dazu sprechen Sie in ihrem neusten Buch die starke Zunahme an Therapien an. Ich kenne ein Kind, das Ergotherapie verschrieben bekam, weil es als Kindergärtler nicht mit einem Tennisball prellen konnte.
Ein sehr schönes Beispiel. Uns erging es ähnlich: Unserem Sohn wurde attestiert, er springe nicht gut – obwohl er zweimal pro Woche beim FC Aarau trainierte. Er wurde dann eine Zeit lang während der Schule abgeholt und in eine Turnhalle gefahren, um dies zu üben. Er hat es natürlich genossen! Aber durch solche Massnahmen kriegen Kinder dann eine Etikette verpasst, die sie durch die ganze Schulzeit begleitet. Bei einer Bewegungstherapie ist das vielleicht nicht so dramatisch, anders sieht das etwa bei der Diagnose ADHS aus. Da tendieren Lehrkräfte vielleicht dazu, das entsprechende Kind nicht für ein höheres Niveau zu empfehlen. Fakt ist: Die Therapien haben stark zugenommen. Heute haben sechs von zehn Kindern schon mal eine verordnet bekommen.

Eine unglaubliche Zahl!
Ja, sie ist empirisch belegt. Die Bildungspolitik sollte dies thematisieren. Wir haben heute eine sehr enge Vorstellung, was dem «Normalen» entspricht. Das führt zu einer Spirale nach oben, es gibt immer mehr neue Fachleute. Und das Angebot schafft die Nachfrage.

Warum ändert niemand etwas daran?
Zum einen gibt es viele junge Leute, vor allem Frauen, die in der Unterstützung tätig sein wollen. Heute wird Heil- und Sonderpädagogik nicht mehr in Sonderschulen unterrichtet, sondern während einzelnen Lektionen in verschiedenen Klassen. Und diese Fachleute brauchen genug Stunden, um genug Arbeit zu haben. Zum anderen sehen sich Lehrpersonen in ihren Klassen einer derartigen Bandbreite an Fähigkeiten gegenüber, dass sie einen Teil auslagern müssen, um ihre Aufgaben überhaupt bewältigen zu können. Der Hauptgrund aber ist die bereits erwähnte enge Begrenzung dessen, was heute als «normal» gilt. Anders könnte die ganze Vielfalt gar nicht betreut werden. Der inklusive, integrative Gedanke kann auch zur Überforderung des Bildungssystems führen.

Margrit Stamm

Margrit Stamm, Professorin für Erziehungswissenschaften.

ZVG

Und ist es nicht einfach auch viel zu viel Stoff, den die Kinder heute bewältigen müssen?
Es ist unglaublich, was für neue Fächer und Verantwortungsbereiche der Schule zugeschoben werden. Ein Migrantenkind, das Deutsch lernen muss, Mundart verstehen, und dann auch noch Englisch und Französisch hat. Der Lehrplan 21 listet 2304 Kompetenzstufen auf. Das ist für viele Kinder schlicht zu viel. Ich denke auch, es müsste eine Konzentration auf weniger geben, um das Zentrale vertiefen zu können. Damit mehr Möglichkeit zum Üben bleibt. Das gäbe vielen Kindern mehr Sicherheit. Man müsste viel mehr Wert aufs Lernen zu lernen legen, und auf überfachliche Kompetenzen. Aber natürlich erachtet jeder Fachdidaktiker seinen Bereich als den weitaus am wichtigsten. Und dann kommt immer Neues dazu: Informatik, Ethik etc.

Apropos Informatik. Inwiefern hat die Digitalisierung die ganze Entwicklung befeuert?
Sehr, aber auch hier geht wieder die Schere auf: Kinder aus einfacheren Verhältnissen sind benachteiligt. Das sahen wir speziell im Corona-Lockdown. Wenn ein Kind daheim zum Beispiel ein Referat vorbereiten muss, braucht es vielleicht Mami oder Papi, um im Netz nach Schmetterlingen zu recherchieren. Gut situierte Eltern können das, andere nicht. Ein Tablet zu haben reicht nicht, man muss es auch entsprechend einsetzen können, und Lehrpersonen bleibt vielfach zu wenig Zeit, dies zu vermitteln. Dann werden die Eltern daheim als Hilfslehrkräfte zum Üben mit den Kindern eingesetzt. Hausaufgaben müssten so gestaltet werden, dass Kinder sie selbständig bewältigen können. Wenn Kinder von sich aus motiviert sind, sie zu machen, ohne aktive Unterstützung der Eltern, können Hausaufgaben dazu beitragen, das Gelernte zu festigen.

Ob es wieder Kleinklassen braucht, wurde vergangene Woche auch auf Radio SRF1 rege diskutiert.

In Teil 1 unseres Interviews sprechen wir mit Margrit Stamm darüber, wie es überhaupt so weit kommen konnte, dass sich Schulkinder und ihre Eltern in der Schweiz dermassen unter Druck fühlen – und was die 20 Jahre alte Pisastudie damit zu tun hat.

In Teil 3 erklärt Margrit Stamm, wie Eltern ihre Kinder auf ihrem Bildungsweg am besten unterstützen können, und was sie sich von der Bildungspolitik wünscht.

Von Christa Hürlimann am 30. Januar 2023 - 07:00 Uhr