Rund um die Volksschule tobt ein Sturm, es hagelt Kritik von allen Seiten: Schulnoten seien nicht mehr zeitgemäss, moniert die Wirtschaft, inklusive Klassen gehörten abgeschafft, sagt die FDP. Die Lesekompetenz von Schweizer Schulkindern hat sich verschlechtert, zeigt die Pisa-Studie. Ein Ende des Lehrermangels ist nicht in Sicht. Und künstliche Intelligenz wirft Grundsatzfragen bezüglich Lernen und Hausaufgaben auf.
Vom Tumult in den Schlagzeilen ist auf dem Pausenplatz der Primarschule Goldau SZ nichts zu spüren. Im Schatten der grossen Linde sitzt Schulleiter Padi Bernhard (53) und schaut einer Klasse beim Üben einer Hip-Hop-Choreografie zu. Dann wechselt er ein paar Worte mit zwei Jungs, die vorbeirennen. Der ehemalige Frontsänger der Band Mash («Ewigi Liäbi») trägt ein breites Grinsen im Gesicht.
Padi Bernhard, Ihnen ist das Lachen also noch nicht vergangen?
Überhaupt nicht. Ich habe jeden Tag Freude an meinem Job, und manchmal frage ich mich bei der ganzen Kritik schon, ob man keine dringenderen Probleme hat.
Jammern auf hohem Niveau?
Definitiv. Wir sind hier in der Schweiz sehr privilegiert. Jedes Kind bekommt eine schulische Grundbildung. Das ist in vielen Ländern dieser Welt keine Selbstverständlichkeit. Ein durchlässiges Bildungssystem sorgt für viele Zukunftsperspektiven, und das auf hohem Niveau. Immerhin schneiden Schweizer Schulkinder im internationalen Vergleich unter den Besten ab.
Die Pisa-Studie zeigt auch: Die Lesekompetenz von Schulkindern in der Schweiz nimmt ab.
Erstens liegt sie über dem Durchschnitt, und zweitens glaube ich, dass man den Ursprung für den leichten Abwärtstrend nicht im Schulunterricht suchen muss.
Wo dann?
Ich glaube, dass hier ein direkter Zusammenhang mit der Digitalisierung besteht. Schauen wir uns doch um: Schon vor der Einschulung wird ein Kind von allen Seiten mit Animation überflutet. Wie soll es die Motivation entwickeln, sein Hirn anzustrengen und ein Buch zu lesen, wenn ihm jeder langweilige Moment direkt abgenommen wird? Es fehlt schlicht die Übung.
«Prüfungsnoten haben tatsächlich wenig Aussagekraft über die Kompetenzen eines Kindes»
Padi Bernhard, Sänger und Schulleiter
Auch die Noten stehen in der Kritik. Halten Sie dieses Beurteilungssystem für zeitgemäss?
Nein. Prüfungsnoten haben tatsächlich wenig Aussagekraft über die Kompetenzen eines Kindes. Sie bilden nichts weiter ab als eine Rangliste innerhalb einer Klasse. Und das Resultat kann durch viele Faktoren verfälscht werden: Vielleicht hatte ein Kind einen schlechten Tag, oder es hat den Stoff nur auswendig gelernt, aber nicht wirklich begriffen. Darum werden auch bei uns die Prüfungsnoten abgeschafft.
Wie beurteilen Sie dann die Schülerinnen und Schüler?
Sie erhalten mehrmals jährlich eine differenzierte Rückmeldung in einem schriftlichen Bericht oder bei einem Gespräch. Die Summe dieser Notizen und Eindrücke wird Ende Schuljahr weiterhin in einer Zeugnisnote abgebildet.
Ist die aussagekräftiger?
Ja, denn sie fasst den Gesamteindruck zusammen, der aus einem Jahr Begleitung, Beobachtung und Förderung durch die Lehrpersonen entstanden ist.
Differenzierte Beurteilungen bedeuten einen Zusatzaufwand in einer Zeit, in der viele Lehrpersonen schon überlastet sind.
Der Gedanke dahinter ist für viele Lehrpersonen aber auch motivierend. Es geht darum, einem Kind eine wertschätzende Rückmeldung zu geben und die Grundlage für gezielte Förderung zu schaffen. Das ist mit einer Zahl nicht möglich. Bei meinen Kolleginnen und Kollegen sehe ich, dass das Wohl der Kinder im Berufsalltag ein zentrales Anliegen und ein wichtiger Antrieb für Arbeitsmotivation ist.
Sie haben 29 Jahre lang unterrichtet. Warum nicht mehr?
Weil ich ein Mensch bin, der die Dinge gern ganz oder gar nicht macht. Der Schulleitungsjob war eine neue Herausforderung, die mich reizte. Ich organisiere den Alltag von 600 Schulkindern und 60 Lehrpersonen. Daneben noch im Klassenzimmer zu stehen, könnte ich nicht verantworten. Aber ich war immer gern Lehrer und finde, der Job hat viele Vorteile.
Welche Vorteile sehen Sie im Lehrerjob?
Unterrichten ist eine sinnstiftende Tätigkeit. Man kann selbstbestimmt arbeiten und hat mehr Ferien als in anderen Berufen. Auch muss man
sich kaum Sorgen um einen möglichen Arbeitsplatzverlust machen.
Wie erklären Sie sich dann den Lehrermangel?
Die ersten drei Jahre im Lehrberuf sind ein Überlebenskampf. Man braucht eine Weile, um sich zurechtzufinden im Lehrplan und um sich einen nötigen Grundstock an Unterlagen zu erarbeiten. Ich glaube, dass während dieser herausfordernden Phase viele Lehrpersonen die Freude am Beruf verlieren. Auch der administrative Aufwand ist gross geworden.
Künstliche Intelligenz könnte hier Entlastung bringen, nicht?
Tatsächlich kann ich mir vorstellen, dass durch die richtige Anwendung von KI manche Dinge in Zukunft einfacher werden. Nehmen wir die vorhin besprochene Zeugnisnote. Ich finde es legitim, dass eine Lehrperson am Ende des Schuljahres ihre schriftlichen Beurteilungen einspeist mit dem Prompt: «Was wäre zu diesen Notizen eine gerechte Benotung?» Dies darf jedoch nur passieren, wenn man die Antwort des Chatbots mit Menschenverstand hinterfragt. Die Maschine kann einem die Arbeit erleichtern, nicht abnehmen.
Nutzen Sie KI im Schulalltag?
Noch nicht häufig. Unsere Schule nahm im Zug der Digitalisierung eine Pionierrolle ein. Wir waren die Ersten, die allen Schulkindern ein iPad zur Verfügung stellten, und wir haben mit einer fünften Klasse an einer Smartphone-Studie teilgenommen. Aber wie KI auf nachhaltige Weise in den Schulalltag integriert werden kann, da habe ich mehr Fragezeichen als Antworten. Ich denke, der Fokus muss darauf liegen, dass wir alle lernen, diese Tools reflektiert zu nutzen.
Welchen Gedanken möchten Sie Eltern fürs neue Schuljahr mitgeben?
Man darf dem Schulwesen ruhig ein wenig Vertrauen schenken. Heutzutage gibt es viele Eltern, die ihren Kindern gern jedes Problem aus dem Weg räumen möchten. Aber Kompetenzen erlernen Kinder nur, wenn wir ihnen etwas zutrauen. Selbst wenn es einmal nicht rundläuft: Eine schlechte Leistung ist kein Weltuntergang, sondern ein Lehrblätz. Durch Rückschläge entwickeln Kinder Resilienz. Das ist eine wichtige Fähigkeit fürs Leben.