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Depressionen bei Kindern

«Pro Klasse sind ein bis zwei Schüler betroffen»

Bereits Kinder im Vorschulalter können an Depressionen leiden. In der Pubertät nimmt die Zahl der Betroffenen zu. Wir haben mit Dr. Gregor Berger von der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich darüber gesprochen, welches die Gründe für dieses Leiden sein können, bei welchen Alarmzeichen Eltern hellhörig werden sollten und welche Heilungsansätze es gibt.

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Depression bei Kindern

Traurigkeit, Antriebslosigkeit und keine Freude im Alltag: Depressive Episoden betreffen auch Kinder und Jugendliche.

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Dr. Berger, wie äussern sich Depressionen bei Kindern und Jugendlichen?
Depressionen zeigen sich durch eine überdauernde traurige Verstimmung und Unfähigkeit, sich an Dingen zu erfreuen, aber auch durch eine Interessen- und Energielosigkeit. Viele Jugendliche sind reizbarer als sonst und ziehen sich häufiger als sonst zurück. Nicht selten kommt es zu einem Leistungsknick in der Schule oder Lehre. Es kann auch zu einer Veränderung des Essverhaltens kommen. Manche Kinder essen dann kaum oder nichts mehr, andere viel mehr als üblich. Häufig kommen auch Schlafstörungen vor, besonders Einschlafstörungen. Bei schweren Verläufen haben viele Jugendliche Gedanken, nicht mehr leben zu wollen oder auch konkrete Fantasien, sich das Leben nehmen zu wollen. Wenn mehrere Symptome über mehr als zwei Wochen täglich die meiste Zeit vorhanden sind, sprechen wir von einer depressiven Episode. Es ist zwar eine willkürliche Definition, doch sie hat sich bewährt, da sie uns ermöglicht, Therapie-Empfehlungen und Aussagen zur Prognose zu machen. Viele dieser Symptome kommen zwar auch bei normalen Pubertierenden vor, doch dauern diese in der Regel nur einige Stunden oder wenige Tagen an. Die Lust und der Antrieb, rauszugehen, Freundschaften zu pflegen oder seinen Hobbys nachzugehen, kommt schnell wieder. Bei einer depressiven Episode ist dies nicht so, dann bleiben diese Symptome in der Regel über mehrere Monate und beeinträchtigten die normale Entwicklung. Unbehandelt können diese auch chronifizieren und sich negativ auf die Persönlichkeitsentwicklung auswirken.

Ab welchem Alter kann das einem Kind passieren?
Es können bereits Kinder im Vorschulalter betroffen sein.

Wieviele Kinder und Jugendliche sind in der Schweiz betroffen? 
Bei den präpubertären Kindern sind es etwa 1 bis 2 Prozent aller Kinder. Ab der Pubertät sind es ein bis zwei Kinder pro Schulklasse, die zwischen 12 und 18 Jahren eine leichte bis schwere depressive Episode erleben werden, wobei ältere Teenager stärker betroffen sind.

«Es ist eine Ignoranz der Bevölkerung zu denken, dass ein Knochen zwar brechen, das Gehirn aber nicht krank werden kann.»

Sind Depressionen bei Kindern und Jugendlichen aus ihrer Expertensicht heute noch ein Tabuthema?
Ja, leider. Wenn ein Kind eine Depression oder eine andere psychische Krankheit wie beispielsweise eine Angststörung, Zwangsstörung oder Psychose entwickelt, ist die Reaktion oftmals: «Ah, das kommt schon wieder, das ist nur die Pubertät.» Das ist meiner Meinung nach verheerend. Je länger ein Zustand andauert, desto schlimmer wird er. Deshalb ist Früherkennung bei psychischen Krankheiten genauso wichtig wie bei körperlichen Leiden. Es ist ein Fehler zu denken, dass ein Knochen zwar brechen, das Gehirn aber nicht krank werden kann.

Wie sehr leiden Kinder und Jugendliche an einer psychischen Erkrankung?
Von allen möglichen Krankheiten ist Depression die Erkrankung, welche am meisten Jugendjahre frisst. Das bedeutet, dass mehr Jugendliche gesunde Lebensjahre an eine Depression verlieren als an Krebserkrankungen oder Diabetes. Das muss man sich mal vorstellen! Das ist eine grosse Tragik und sie muss benannt werden in der Schule, in der Politik, in der Gesellschaft. 

Warum haben es die Jugendlichen denn so schwer?
Die Jugend ist aktuell sehr am Beissen, nicht nur wegen Corona. Diese Lebensphase ist heute deutlich länger als noch vor 80 Jahren. Nach dem 2. Weltkrieg war die Pubertät für viele mit 20 abgeschlossen, dann hat man geheiratet und ein eigenständiges Leben geführt. Heute beginnt die Pubertät früher und dauert länger, etwa vom 10. bis zum 30. Lebensjahr. Das schafft sehr viele Probleme. Die Jungen sind länger abhängig vom Elternhaus und sie brauchen viel mehr Zeit, um die Anforderungen des Erwachsenwerdens zu erfüllen. Auch die Perspektivlosigkeit ist ein wichtiger Punkt. Hinzu kommt, dass es die Grossfamilie wie früher kaum mehr gibt und das familiäre Eingebettetsein eher verloren geht.

«Der Druck steigt in allen Lebensbereichen, nicht nur in der Schule. Kinder und Jugendliche haben kaum mehr die Möglichkeit, einfach zu sein.»

Welche Rolle spielt der Medienkonsum bei Kinder und Jugendlichen?
Medien sind ein wichtiger Faktor. Seit etwa zehn Jahren werden die Kinder mit Medien konfrontiert und sind diesem Stressor permanent ausgesetzt. Da die Stellung in der Peergruppe oft vom Online-sein abhängt, geht das bis zu Schlafentzug und Suchtverhalten. Die Rollenvorbilder haben sich verändert. Es ist nicht mehr der drei Jahre ältere Schüler aus dem Fussballtraining. Stattdessen geben die sozialen Medien und Fernsehformate unrealistische Ziele vor.

Das erzeugt natürlich einen enormen Druck.
Ja, der Druck steigt in allen Lebensbereichen, nicht nur in der Schule. Kinder und Jugendliche haben kaum mehr die Möglichkeit, einfach zu sein. Selbst im Sport oder Musikverein sind Leistungstests häufig eine Voraussetzung, aufgenommen zu werden. Nicht zu unterschätzen ist auch der depressiogene Lebensstil. Das heisst zu wenig Schlaf, zu wenig Bewegung und frische Luft, viel virtueller Austausch aber nur noch wenige reale Treffen mit Freunden. Je ausgeprägter solch ein Lebensstil ist, desto grösser ist das Risiko, dass Kinder und Jugendliche psychische Störungen entwickeln.

Spielen auch Drogen eine Rolle?
Ja, leider wird der Drogenkonsum und die Folgen für die Hirnentwicklung während der Jugend verharmlost. Die Drogen, die heute auf dem Markt sind, sind nicht zu vergleichen mit den Drogen, die man früher konsumiert hat. Besonders Cannabis hat sich verändert. Während der THC-Gehalt in den 60-er-Jahren bei 2 bis 3 Prozent lag, sind es heute 16 bis 21 Prozent. Bei Haschisch ist die THC-Konzentration noch höher. Und die Konsumenten werden immer jünger. Je früher und je mehr der Jugendliche regelmässig kifft, besonders wenn es in der Familie psychische Vorbelastungen gibt, desto höher ist das Risiko eine schwere psychiatrische Erkrankungen zu entwickeln. Die Hirnentwicklung wird negativ beeinflusst. In der Diskussion um die Legalisierung von Cannabis wird meines Erachtens dem Jugendschutz zu wenig Beachtung geschenkt. Ich bin nicht für ein generelles Verbot. Cannabis sollte aber aus neurobiologischer Sicht erst ab Anfang oder sogar Mitte 20 konsumiert werden. Man darf sich hier nicht an der juristischen Reife orientieren, sondern sollte die Hirnreifung als Anhaltspunkt nehmen. Diese Aspekte sollten in der Legalisierungsdebatte mehr Gewicht bekommen.

dr. gregor berger
ZVG

PD Dr. med. Gregor Berger ist leitender Arzt des Notfalldiensts der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich.

Sind Kinder eher gefährdet, an einer Depression zu erkranken, wenn die Mutter oder der Vater daran leiden?
Wenn in der Familie psychische Krankheiten vorhanden sind, hat das einen Einfluss auf das Kind und dessen Entwicklung. Diese Kinder sind emotional häufiger belastet, aber nicht nur wegen der Gene. Auch die Beziehungsfähigkeit des betroffenen Elternteils zum Kind leidet, die Mutter oder der Vater kann ihm oft nicht die nötige Zuwendung geben. Dies zeigt sich später in der Adoleszenz, denn diese Erfahrungen gehen nicht spurlos am Kind vorbei. Deshalb sind familiäre Strukturen sehr wichtig. Entscheidend ist, dass das Kind eine konstante Bezugsperson hat, die verfügbar ist. Dazu gehören nicht ausschliesslich die Eltern. Es gibt aber ganz viele Kinder, die sich trotz schwieriger Umstände super entwickeln. Etwa ein Drittel der Kinder muss man aber sehr genau begleiten, damit man psychische Probleme früh genug erkennen kann. 

Welches können andere Gründe für eine Depression bei Kindern und Jugendlichen sein?
Nebst der genetischen Komponente gibt es auch äussere Umstände. Dazu gehören zum Beispiel die frühkindliche Vernachlässigung, jegliche Formen von Traumatisierungen körperlicher oder psychischer Natur oder systemische Ausgrenzungserfahrungen wie Mobbing. Je mehr solche negativen Lebensereignisse ein Kind zu meistern hat, desto gefährdeter ist es, eine depressive Episode zu erleben. 

Was habe ich als Mutter oder Vater falsch gemacht, wenn mein Kind depressiv wird?
Wenn Eltern mit ihrem Kind bei uns in den Notfall kommen, stellen sie relativ schnell die Schuldfrage. Es ist aber die falsche Frage, sie bringt niemanden weiter. Eltern können oft nichts dafür, wenn sie den Job verlieren, sich entlieben und trennen oder andere Schwierigkeiten zu meistern haben. Deshalb muss die Frage lauten: Was kann ich machen, dass sich das Kind trotz schwieriger Umstände gut entwickeln kann? Wie kann ich seine Resilienz fördern?

«Die Familie sollte ein sicherer Hafen sein, in welchem eine gesunde Lebensstruktur möglich ist.»

Und wie schafft man das?
Indem man präsent ist und mit dem Kind in Beziehung geht und bleibt. Das heisst, das Kind wirklich hören und sehen. Oftmals haben Eltern so einen grossen Stress, dass sie die Kinder gar nicht mehr wahrnehmen. Vor allem im Primar- und Vorschulalter bis in die Pubertät sind berechenbare Strukturen für Kinder deshalb enorm wichtig. Diese Strukturen aufrechtzuerhalten ist harte Arbeit. Hier sehe ich, dass viele junge Eltern Mühe haben. Sie lassen ihre Neunjährigen bis elf Uhr fernsehen oder gamen, wenn diese doch um acht oder halb neun ins Bett müssten.

Wie können Eltern ihre Kinder sonst noch schützen?
Die Familie sollte ein sicherer Hafen sein, in welchem eine gesunde Lebensstruktur möglich ist. Das kann heissen: in der Nacht schlafen, tagsüber aktiv sein, mit Gleichaltrigen interagieren, rausgehen, spielen, Streit austragen, selbst etwas schaffen. Jugendliche sollten sich ver- und entlieben und ihre eigenen Erfahrungen machen können. Der Druck in der Schule, aber auch die ausserschulischen Verpflichtungen, Medien und Drogen bringen das gewünschte Gleichgewicht ins Wanken. Ziel ist ein Mittelweg, der eine gewisse Rhythmik ins Leben bringt und das Kind befähigt, die Herausforderungen des Lebens Schritt für Schritt selber zu meistern.

Bei welchen Verhaltensweisen des Kindes sollten Eltern hellhörig werden?
Wenn Eltern einen Lebensknick bemerken, den sie sich nicht erklären können. Wenn das Kind seine Hobbys vernachlässigt, nicht mehr in die Schule gehen möchte, sich nicht konzentrieren kann, schlecht oder gar nicht schläft, wenn man nicht mehr an das Kind rankommt und die zwischenmenschlichen Beziehungen leiden – dann ist es wichtig, rasch zu reagieren und in Beziehung zu treten. 

Wo finden Eltern in dieser Situation Hilfe?
Ich rate, zuerst mit Menschen zu sprechen, die das Kind regelmässig sehen. Das können Lehrpersonen, Schulsozialarbeiter oder Trainer sein. Wie erleben sie das Kind? Haben auch sie Veränderungen beobachtet? Als weiteren Schritt ist ein Termin beim Haus- oder Kinderarzt ratsam. Zusammen bespricht man, ob eine psychologische Fachperson konsultiert werden sollte. 

So könnt ihr Pro Juventute kontaktieren

Kinder und Jugendliche können sich mit allen Sorgen und Fragen an 147.ch wenden. Für Eltern ist die Elternberatung von Pro Juventute rund um die Uhr und kostenlos da. Bei Verdacht auf Missbrauch empfehlen wir den Eltern, sich bei einer Opferberatungsstelle zu melden, um weitere Schritte mit einer Fachperson zu besprechen.

Wie behandelt man Depressionen bei Kindern und Jugendlichen?
Zuerst trifft man strukturelle Massnahmen, um das Verhalten des Kindes zu verändern. Über sechs bis acht Wochen lernt das Kind wieder richtig zu schlafen, tagsüber aktiv zu sein, regelmässig Sport zu machen, zu spielen, zu interagieren. Eine Regulierung des Medien- oder Drogenkonsums ist in dieser Phase oft ein Thema. Auch schaut man sich, besonders bei Jugendlichen, den Freundeskreis an und überlegt, ob dieser einem wirklich guttut. Hier unterscheiden sich Selbst- und Fremdwahrnehmung häufig. Oftmals sucht man sich auch Leute, die einen runterziehen und da rauszukommen ist gar nicht einfach. Es kann auch helfen, wenn man das Setting verändert und das Kind mal zu den Grosseltern kann und somit Stress in belastenden Lebensbereichen weggenommen wird. Eine wohlwollende Strenge kann in einer solchen Krise viel Positives in Gang setzen.

Macht man auch Gesprächstherapien?
Ja, die Psychotherapie ist ein integraler Bestandteil dieser strukturellen Massnahmen. Mit kleinen Kindern spielt oder backt man zum Beispiel etwas und spricht dabei über das Befinden. Hier gilt es, genau zuzuhören. Mit Jugendlichen sind es richtige Gespräche im klassischen Sinne. Doch auch da ist es wichtig, aktiv zuzuhören, die Sichtweise des Jugendlichen zu verstehen und gegebenenfalls auch infrage zu stellen. Wenn das Kind Traumatisierungen erlebt hat, geht es darum, den Umgang mit den negativen Gedanken und Erinnerungen zu verändern, statt sie zu verdrängen. Ziel ist auch der Aufbau des Selbstwertgefühls. Was an mir ist liebenswert? Wie kann ich mich selber gernhaben?

Sie haben die medikamentöse Behandlung bisher noch nicht erwähnt.
Die Primärbehandlung bei Kindern und Jugendlichen ist nicht medikamentös. Wenn die strukturellen Massnahmen und die Psychotherapie nicht helfen konnten und man sich im Klaren darüber ist, um welche Diagnose es sich beim Kind genau handelt, kann man über Medikamente nachdenken. Bei einer leichten Depression behandle ich mit Johanniskraut, bei schwereren Formen mit Serotoninwiederaufnahmehemmern. Sowohl pflanzliche wie auch chemische Medikamente können allerdings Nebenwirkungen haben. Beim Beginn einer antidepressiven Behandlung ist wichtig zu wissen, dass besonders in den ersten Wochen bei etwa einem Fünftel der Behandelten bestehende Suizidgedanken stärker werden. Hier muss man ganz genau beobachten. Manchmal geht es erst bergab, bevor es bergauf gehen kann. Wenn es nicht besser wird, wird als letzte Massnahme eine Hospitalisierung wegen Gefährdung in Betracht gezogen. 

Nehmen wir an, ein Kind hat eine depressive Episode überstanden. Wie gross ist die Gefahr, dass es als Erwachsener wieder depressiv wird? 
Wenn ein Kind eine erste depressive Episode erlebt hat, ist die Chance eines zweiten Mals bei etwa 50 Prozent. Das Positive daran: Bei der Hälfte bleibt es eine einmalige Sache. Das Negative: Die andere Hälfte kann eine chronische Krankheit entwickeln. Je früher man mit der Behandlung anfängt, desto besser die Prognose. Man muss wirklich dranbleiben, den gesunden Lebensstil pflegen und, falls sie nötig waren, Medikamente nicht zu früh absetzen. Mein Mantra der Depressionsbehandlung ist die Rückfallprophylaxe, denn jeder Rückfall schadet dem Gehirn und der psychischen und sozialen Entwicklung eines Menschen.

Von Edita Dizdar am 30. Mai 2021 - 08:00 Uhr