Schulnoten sagen nicht besonders viel über die Fähigkeiten eines Menschen aus. Dennoch haben sie einen Einfluss aufs Selbstwertgefühl eines Kindes. Im schlimmsten Fall einen zerstörerischen. «Die Schule ist mit Prüfungen und Noten zur Treibjagd verkommen. Die Lehrer sind die Jäger, die Noten und Prüfungen sind die Hunde, die man auf die armen Hasen, die Kinder, hetzt», sagte bereits der verstorbene Kinderarzt und renommierte Pädagoge Remo Largo.
Darum stehen Schulnoten in der Kritik
Mittlerweile haben viele Stimmen sich dieser Kritik angeschlossen. Im Frühling stellte der Wirtschaftsdachverband Economiesuisse die Aussagekraft von Zeugnisnoten infrage und forderte stattdessen ein faires und national vergleichbares Beurteilungssystem. Eins, aus dem sich auch für die Arbeitswelt relevante überfachliche Kompetenzen ablesen lassen.
In Reaktion darauf erklärte die oberste Lehrerin der Schweiz, Dagmar Rösler, in der Zeitung «Blick»: «Schulnoten sind nicht mehr zeitgemäss.» Denn sie zeigten nur eine Scheingenauigkeit auf. In einer leistungsstarken Klasse sei eine schlechte Note weniger schlecht als in einer schwächeren Klasse, so Rösler. Testnoten sind also eher als Rangliste innerhalb einer Klasse zu verstehen. Jedoch gewürzt mit einer Prise «Handgelenk mal Pi» durch die Lehrperson.
«Schulnoten sind nicht mehr zeitgemäss.»
Dagmar Rösler, oberste Lehrerin der Schweiz
Auch Eltern sehen Noten mit kritischem Blick. 51 Prozent der Eltern in der Schweiz wünschen sich eine Schule ohne Noten. 54 Prozent der Eltern von Primarschulkindern sehen in Bewertungen und Prüfungen eine Belastung für ihr Kind. Vor allem jüngere Eltern (bis 35 Jahre) sind Noten gegenüber kritisch eingestellt. In dieser Altersgruppe sagen 61 Prozent «Ja» oder «eher Ja» zur Abschaffung von Schulnoten.
Utopisch ist dieser Wunsch nicht. Immer mehr Gemeinden setzten teilweise oder ganz auf die Abschaffung von Noten. Gerade hat auch die Stadt Luzern entschieden, künftig auf diese Form der Prüfungsbewertung zu verzichten. Ab Sommer 2026 schafft sie Prüfungsnoten in der Primarschule ab, ein Jahr später auch in der Oberstufe.
So können Eltern das Zeugnis in Empfang nehmen
Doch es hilft nichts: Kinder bringen dennoch diese und nächste Woche wieder ein Zeugnis nach Hause. Ein Blatt voller Noten, das ihre Leistung im vergangenen Schuljahr bewerten soll. Wie können Eltern darauf richtig reagieren? Hier ein paar Ideen.
Was, wenn das Kind schlechte Noten nach Hause bringt? Hier empfiehlt Dagmar Rösler, sich erst einmal selber zu fragen, was «schlechte Noten» denn genau sind. Zuerst einmal sollten wir klären, was eigentlich schlecht ist. Man muss berücksichtigen, welche Stärken das Kind hat. Ist es gut in den Sprachen und fällt ihm das Lernen dort leicht, dann kann man selbstverständlich auch eine gute Leistung erwarten. Ein Kind, dessen mathematisches Verständnis nicht so ausgeprägt ist, das aber eine 4,5 schafft, hat doch eine gute Leistung vollbracht. Sie sehen, Noten sind sehr relativ», sagt die oberste Lehrerin im Gespräch mit der Schweizer Illustrierten.
Sie hält nicht viel von Belohnen oder Bestrafen, wenn es um Noten geht. «Viel wichtiger ist die echte Anteilnahme an der Arbeit, die das Kind leistet, auch wenn das nicht immer die Bestleistung zur Folge hat. Tadel und Strafe bringen gar nichts. Sie entmutigen eher und nehmen ihm die Freude an der Schule und am Lernen.» Beim Loben macht es ausserdem Sinn, die Anstrengungen eines Kindes hervorzuheben und wertzuschätzen. Also die Eigenleistung eines Kindes und nicht die Note zu rühmen.
Das Zeugnis durch ein «Stärkezeugnis» ergänzen: Erklärt eurem Kind, dass ein Zeugnis nicht viel darüber aussagt, wer es wirklich ist und was es wirklich kann. Um einem Kind zu zeigen, dass es viel mehr ist und kann, als diese Zahlen zeigen, können Eltern mit ihm gemeinsam ein zweites Zeugnis basteln: Eines, das all seine Stärken und tollen Charakterzüge hervorhebt.
Die Idee dazu stammt von Lerncoach Lena Istel. Das Stärkezeugnis kann auch dazu dienen, das Schuljahr zu reflektieren. Welche Punkte Eltern in einem Stärkezeugnis festhalten können, erklärt die Expertin in ihrem Beitrag «Dein Kind ist mehr als sein Zeugnis»:
Dem Kind eine Perspektive eröffnen: Egal, welche Noten die Kinder in einem Zeugnis nach Hause bringen, Eltern sollten mit Verständnis und Geduld reagieren. «Man sollte dem Kind Unterstützung signalisieren und ihm klar machen, dass eine gute Arbeitseinstellung erwartet wird, die Noten allerdings nicht alles belegen können, was wirklich geleistet wurde», so Rösler. Ein Zeugnis ist eine Momentaufnahme, das Leben geht weiter, die Entwicklung auch.
Man kann ein Kind aus der Enttäuschung über eine Note herausholen, indem man im vorschlägt: «Hey schau, es gibt Möglichkeiten und Strategien, wie wir daran arbeiten können. Was wollen wir in Zukunft anders machen? Hast du Vorschläge? Magst du meine Ideen hören?» Damit signalisieren Eltern dem Kind, das es seiner Benotung durch die Lehrperson nicht ausgeliefert ist, sondern selbstwirksam seine schulische Zukunft mitgehalten kann.