Tina Reigel, wie sollten Eltern Geschlechtsteile vor dem Kind benennen?
Bereits auf dem Wickeltisch mit der korrekten Bezeichnung. Vulva für das weibliche Genital und Penis und Hoden für das männliche. Es ist wichtig, ein Wort für diese Körperteile zu haben – und zwar das richtige und nicht etwa Schnäggli, Zwätschgeli, Pfiffeli oder Zipfeli. Für das Ohr erfinden wir schliesslich auch keine anderen Namen.
Was, wenn das Kind selbst eine eigene Bezeichnung für sein Geschlechtsteil verwendet?
Das ist etwas Anderes. Hört ein Mädchen etwa einen Jungen sagen, dass er ein «Zipfeli» hat und nennt dann sein Geschlechtsteil «Zipfelina», kann das in dem Moment ein positives Gefühl geben. Es handelt sich um eine Form von Selbstbestimmung: Ich habe ein Körperteil und ich gebe dem einen Namen. Dann können die Eltern zum Beispiel sagen: «Das ist okay, aber ich nenne deine Zipfelina Vulva.» Kinder dürfen ihre Geschlechtsteile nennen, wie sie wollen, sollten aber die korrekte Bezeichnung kennen.
Weshalb ist das wichtig?
Es schafft Klarheit auf der Körperlandkarte, verhindert sprachliche Missverständnisse und hilft bei der Prävention von Übergriffen. Indem Kinder ihre Genitalien nicht als etwas Schambehaftetes betrachten und Worte dafür haben, fällt es ihnen leichter, über sie zu sprechen. Interessanterweise sind oft die Erwachsenen irritiert, wenn ein Kind von der Vulva oder dem Penis spricht. Viele denken dann: «Ui, das Kind kennt ja schon Wörter…»
Woher kommt das?
Kinder lernen Worte wie Penis und Vulva genauso, wie sie die Bezeichnungen Nase oder Bein lernen. Viele Erwachsene sind in Bezug auf die eigene Sexualaufklärung anders geprägt und verbinden die Worte Vulva und Penis gedanklich rasch mit Geschlechtsverkehr und der erwachsenen Sexualität. Sie sehen darin nicht einfach Körperteile. Kinder hingegen tun genau das.
Tina Reigel, 38, ist ausgebildete Sozial- und Sexualpädagogin und bietet Elternbildungsreferate an sowie Online-Kurse wie «Wickeltisch Basics – Sexualpädagogische Basics zur kindlichen Entwicklung im Alter von 0 - 3 Jahren» oder «Körpererkundungsspiele – Was heisst das und wie gehe ich damit um». Weitere Infos findet ihr auf littlefellow.ch oder auf dem Instagram-Account @littlefellow.
ZVGWie sollten Eltern reagieren, wenn sich ein Kind immer wieder zwischen die Beine fasst?
Das hängt davon ab, ob es im privaten Rahmen oder in der Öffentlichkeit geschieht. Fasst sich ein Kind daheim an Penis oder Vulva, ist das nicht dasselbe, wie wenn es dies auf dem Spielplatz oder im Bus tut. Grundsätzlich ist es natürlich in Ordnung und etwas Schönes, seinen eigenen Körper zu berühren. Als Eltern sollte man aber darauf achten, dass das Kind in der Öffentlichkeit nicht zu lange so verharrt. Je jünger es ist, desto unbedachter tut es dies – und es darf lernen, dass dies etwas Privates ist.
Was müssen Eltern zum Thema Doktorspiele wissen?
Dass diese Spiele durchaus positive Seiten haben und der selbstbestimmten, kindlichen Aneignung von körperlich-sinnlichem Erleben dienen. Meist beginnen Kinder zirka im Alter ab drei oder vier Jahren damit – wobei ich lieber von Körpererkundungsspielen spreche, weil es eben nicht nur ein klassisches «Dökterle» mit einem Ärzteköfferchen ist. Körpererkundungsspiele können auch im Rahmen von anderen Rollenspielen wie «Familie spielen», «Heiraten» oder gemeinsamen WC-Besuchen stattfinden. Wichtig ist, dass die Eltern diese Körpererkundungsspiele begleiten, Rahmenbedingungen abstecken und mit den Kindern Regeln besprechen.
Zum Beispiel?
Die spielenden Kinder sollten ungefähr im selben Alter sein und es darf kein Machtgefälle vorliegen. Mehr als zwei Jahre Altersunterschied ist zu viel. Alle Kinder sind freiwillig dabei und wissen, dass sie das Spiel verlassen dürfen, wenn ihnen nicht mehr wohl ist. Nein heisst nein und Hilfe holen ist immer erlaubt. Elternteilen empfehle ich, in Hörweite zu bleiben, damit sie mitbekommen, wenn ein Kind nicht mehr mitmachen möchte.
«Wichtig ist, dass die Eltern Körpererkundungsspiele begleiten, Rahmenbedingungen abstecken und mit den Kindern Regeln besprechen.»
Wie lernen Kinder zu erkennen, wann ihre Grenzen überschritten werden?
Über Erfahrungen und indem man mit ihnen über angenehme und unangenehme Körperwahrnehmungen, Gefühle und Grenzen spricht. Eltern können das Abgrenzen auch vorleben. Zum Beispiel, indem sie in Alltagssituationen sagen: «Diese Berührung am Arm fühlt sich für mich nicht gut an. Das kratzt, bitte lass das.» Ein spielerischer Zugang könnte Kinderschminke sein: Das eine Kind findet das Gefühl des feinen Pinselchens im Gesicht super angenehm, ein anderes überhaupt nicht. Auf letzteres können Eltern reagieren und sagen: «Ich sehe, du willst nicht mit dem Pinsel geschminkt werden und das ist in Ordnung.» Damit leistet man bereits einen Beitrag zur Prävention von Übergriffen und gibt dem Kind das Gefühl: «Du bist richtig und wichtig.»
Welche Reaktion empfehlen Sie, wenn Freunde oder Verwandte das Kind ungefragt auf den Schoss nehmen oder ein Küsschen einfordern?
Das ist eine Grenzüberschreitung und das Kind soll wissen, dass es niemandem ein Küsschen geben und sich auf keinen Schoss setzen muss. Beobachtet man ein solches übergriffiges Verhalten beispielsweise an einem Familienfest, sollte man hingehen, sich fürs Kind einsetzen und erklären, dass es das Verlangte offensichtlich nicht tun möchte und die Person diese Grenze wahren soll. Ist das Kind über seine körperlichen Grenzen aufgeklärt und kann diese benennen, erhöht das sowohl die Hürde für Grenzüberschreitungen als auch für sexualisierte Gewalt. Die Aufgabe, Kinder zu schützen, liegt jedoch bei den Erwachsenen und ist ein gesellschaftliches Thema.
Wie kann man ein Kind vor sexuellen Übergriffen schützen?
Eine hundertprozentige Sicherheit gibt es leider nicht. Wichtig ist, dass Kinder wissen, dass ihre Eltern oder andere Vertrauenspersonen ihnen glauben, ihnen zuhören und sie mit ihnen über alles sprechen können – Dazu gehört Sexualität und dazu zählen auch Geheimnisse.
Weshalb betonen Sie das?
Täterinnen und Täter versuchen, ihre Opfer zu manipulieren und setzen sie damit unter Druck, dass das, was geschehen ist, ihr gemeinsames Geheimnis ist. Deshalb sollten Kinder wissen, dass es nie schlimm ist, ein Geheimnis auszuplaudern. Die Prävention beginnt ausserdem ab der Geburt, indem man Kinder altersgerecht in ihrer sexuellen Entwicklung begleitet. Stellen sie Fragen zum Thema Geschlechtsverkehr, kann man ihnen nicht nur alterts- und entwicklungsgerecht erklären, was dabei passiert, sondern auch darauf hinweisen, dass das etwas ist, das nur Erwachsene miteinander machen.
«Ist ein Kind über seine körperlichen Grenzen aufgeklärt und kann diese benennen, erhöht das sowohl die Hürde für Grenzüberschreitungen als auch für sexualisierte Gewalt.»
Sie plädieren also dafür, möglichst früh über Geschlechtsverkehr zu sprechen?
Sobald das Kind entsprechende Fragen stellt. Meist beginnt das im Kindergartenalter und ein Kind fragt etwa: «Wie kommt das Baby in den Bauch?» Dann zählen Antworten wie: «Das erkläre ich dir, sobald du alt genug bist» nicht. Generell gilt bei der Aufklärung von Kindern die Faustregel: Je jünger das Kind, desto einfacher die Wortwahl. Und je mehr sie verstehen, desto umfassender kann die Antwort ausfallen.
Welche Fehler sollten Eltern vermeiden?
Sie sollten nicht in einen Überaktionismus verfallen. Es muss nicht bis zu einem Tag X alles zum Thema Sexualität besprochen sein und sie brauchen ihren Kindern auch nicht unzählige Bücher zu zeigen – es ist vielmehr ihre Erziehungshaltung, die zählt. Die sexuelle Entwicklung beginnt mit der Geburt und endet mit dem Tod. Sie bleibt also ein lebenslanges Lernfeld. Gleichzeitig reicht es nicht aus, das Thema erst in der Pubertät anzusprechen. Das entspräche dem veralteten Bild, dass Sexualität erst mit der Möglichkeit auf Fortpflanzung relevant wird und man seinen Nachwuchs hauptsächlich vor übertragbaren Infektionen und einer ungewollten Schwangerschaft schützen will. Ganzheitliche Sexualaufklärung beinhaltet aber viel mehr als das – auch Erwachsene lernen noch einiges dazu.