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Magrit Stamm über Remo Largos Vermächtnis

So wenig braucht es, um bessere Eltern zu werden

Der Kinderarzt und Entwicklungsforscher Remo Largo hat der Gesellschaft drei Jahrzehnte lang ins Gewissen geredet, dafür international viel Anerkennung erhalten – aber zu seinem eigenen Bedauern zu wenig Konkretes bewirkt. Erziehungswissenschafterin Margrit Stamm sagt, welche seiner Anliegen sich Eltern wirklich zu Herzen nehmen sollten. Lehnt euch schon mal zurück: Es bedeutet nicht viel Arbeit – im Gegenteil.

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Remo Largo 2011

Haderte damit, dass seine Botschaft in der Gesellschaft zu wenig zu verändern vermochte: der kürzlich verstorbene Kinderarzt und Entwicklungsforscher Remo Largo.

Thomas Buchwalder

Margrit Stamm, was für eine Beziehung hatten sie zu Remo Largo?
Wir haben uns nicht nahe gekannt, aber gegenseitig wertgeschätzt, wir hatten regen E-Mail-Verkehr, uns an Tagungen gesehen, er war zwei-, dreimal bei mir in Fribourg an Veranstaltungen, und er fragte mich immer wieder nach unseren Forschungsresultaten bezüglich Kinder und Familien. Wir pflegten einen gehaltvollen, anregenden Austausch.

Demnach muss sein Tod ein grosser Verlust sein für sie.
Ja, Remo Largos Tod ist für mich menschlich wie beruflich ein grosser Verlust. Ich wusste, dass es ihm gesundheitlich nicht gut ging. Er hatte es mir andeutungsweise schon seit mehreren Jahren gesagt. Doch er sah nie krank aus, blieb bis zuletzt ein neugieriger Mensch, das empfand ich überhaupt als zentrales Merkmal von ihm: Er hat seine Neugierde immer behalten, obwohl er schon früh emeritiert wurde. Man hat kaum gemerkt, dass er nicht gesund war. Ich wusste zum Beispiel nicht, dass er auf einem Ohr taub war, davon bekam man im Kontakt mit ihm nichts mit. Remo Largo war für mich ein Mensch, der voll im Leben stand. Und er war einer der ganz wenigen Forscher, die sehr anschaulich schreiben, und sprach so die breite Bevölkerung an.

Welches waren aus ihrer Sicht seine wichtigsten Anliegen?
Remo Largo hat immer das Kind in den Mittelpunkt gestellt. Er zeigte auf, wie enorm die Spannweite der kindlichen Entwicklung ist, wie einmalig jedes Kind ist. Darauf hat er seit Jahrzehnten insistiert, basierend auf den Longitudinalstudien, die er verantwortete. Schon 1993, in seinem ersten Buch «Babyjahre», formulierte er die Botschaft: Ein kleines Kind, ein Säugling, ist auch dann normal, wenn es ausserhalb der Norm ist. Auch wenn es später oder früher lernt zu gehen. Remo Largo hat besonders Eltern, die zum ersten Mal ein Kind bekamen, dort abgeholt, wo sie standen. Ihnen gezeigt, dass sie keine Angst haben müssen, dass sie Vertrauen haben können in ihr Kind. Das war etwas vom Zentralsten, das er immer wieder betont hat.

«Remo Largo hat den Eltern gezeigt, dass sie Vertrauen haben können in ihr Kind.»

Largos entspannter Ansatz stand im Gegensatz zum vorherrschenden Leistungsdruck. Inwiefern gelang es ihm überhaupt, die Gesellschaft zu beeinflussen?
Seine Anliegen wurden nicht so umgesetzt, wie er sich das vorgestellt hatte. Ich glaube, er haderte etwas damit, dass es insgesamt wenig Veränderungen gab. Alle finden seine Botschaft zwar wunderbar, das Kind müsse nicht einer Norm entsprechen – doch viele rennen dann doch der Frühförderung nach, um noch mehr aus dem Kind herauszuholen. Das zermürbte Remo Largo etwas. In den letzten Jahren wurde er politisch aktiver, fing an, sich einzumischen, etwa bei neuen Reformprojekten in der Schule, die zur Abstimmung kamen. Er wies beispielsweise auch auf die Schwierigkeiten der Buben in der Schule hin. Das habe ich sehr begrüsst, weil ich auch in diesem Bereich forsche.

Professorin Margrit Stamm

Prof. Dr. Margrit Stamm twitterte zu Remo Largos Tod: «Ich bin tief betroffen vom Hinschied von Remo Largo. Er war ein wunderbarer Mensch, ein einmaliger Forscher und ein pointierter Vertreter einer liebevollen Erziehung ohne Förderwahn.»

Raffael Waldner

Was gab es für Reaktionen auf seine Kritik bezüglich Benachteiligung der Buben an der Schule?
Er stiess nicht auf eitel Freude, oft bei Lehrerinnen. Nicht wenige von ihnen finden, Buben müssten nun halt etwas untendurch, so wie es die Mädchen früher mussten. Aber ich war froh, dass Remo Largo dieses Thema aufnahm und verteidigte. Er brachte auch weitere Themen in die politische Diskussion ein wie die freie Schulwahl oder die Abschaffung der Noten.

Wie standen Sie zu seiner Meinung, dass es besser wäre, Schulnoten abzuschaffen?
Remo Largo kritisierte, die Schule drehe sich heute um alles Mögliche, bloss nicht ums Kind. Doch die Schule hat, ob sie will oder nicht, auch eine Funktion der Integration, der Durchlässigkeit, der Kompetenzförderung und der Vergabe von Zertifikaten. Dem stand er mit seinem Fokus auf die Einmaligkeit jedes Kindes gegenüber, und dass man kein Kind unter Druck setzen sollte. Doch die Forschung zeigt vielfach, dass auch der Ersatz von Noten durch Buchstaben, Kreuzchen oder Lernberichte immer Verzerrungen beinhaltet. Jedes Kind muss irgendwann einen Übertritt in die nächst höhere Schulstufe schaffen. Diesbezüglich gibt es kein gerechtes Beurteilungssystem, man kann es nur etwas fairer gestalten.

Ansonsten waren sie sich fachlich immer einig?
Seine Ziele, Ideale, Entwicklungsgrundsätze kann ich zu 200 Prozent unterschreiben. Wir hatten zum Teil aber einen anderen Fokus. Die soziale Ungerechtigkeit etwa hat Remo Largo nur am Rande behandelt. Mein Interesse richtet sich auch auf Kinder, bei denen eine «Überförderung» gar nicht möglich ist, sondern sich die Frage stellt: Was könnten deren Eltern überhaupt machen, um sie zu fördern. Es gibt nicht wenige Kinder mit Potenzial, die aber nicht in Familien geboren worden sind, die ihnen das passende Umfeld für die Potenzialentfaltung bieten können. Solche Eltern lesen keine Ratgeber. Und sie können sich gar keine Förderkurse leisten. Mit seinen Büchern hat Remo Largo Eltern angesprochen, die diese Bücher auch lesen, also gebildet sind. Doch in seinen Aussagen zu solchen Mittelschichtfamilien waren wir uns immer einig.

«Alle finden Largos Botschaft zwar wunderbar, das Kind müsse nicht einer Norm entsprechen – doch viele rennen dann doch der Frühförderung nach.»

Welches sind weitere Erkenntnisse Remo Largos, die sich Eltern aus ihrer Sicht zu Herzen nehmen sollten?
Er betonte immer, dass jedes Kind Fähigkeiten habe, aber darüber hinaus könne man es nicht so fördern, dass es ein Genie werde. Wenn Eltern so ein Kind zur Nachhilfe in ein Lernstudio schicken, erzeugen sie nur Druck und Ungeduld. Sie sollten akzeptieren, dass jedes Kind seine Grenzen hat.

Wie wirken sich solche «übermotivierte» Bemühungen der Eltern auf das Kind aus?
Das Kind kann nicht mehr sich selber sein. Ich habe mit meinem Team genau solche Familien untersucht. Da hat sich die Kehrseite der Medaille gezeigt: Diese Eltern möchten aus ihren «Wunschkindern», wie Largo sie nannte, Edelsteine machen, so lange an ihnen herumschleifen, bis sie so leuchten, dass die Eltern zufrieden sind damit. Largo betonte immer, dass man Kinder nur mit negativen Auswirkungen so verändern kann, dass sie der eigenen Vorstellung entsprechen.

«Eltern sollten akzeptieren, dass jedes Kind seine Grenzen hat.»

Largo war bekannt dafür, «das Kind» erklären zu wollen, aber Eltern keine konkreten Ratschläge zu geben, wie wir unsere Kinder erziehen sollen. Warum eigentlich?
Ich verstehe das, ich will auch nicht als «Erziehungsexpertin» betitelt werden, ich bin Forscherin und Wissenschaftlerin. Aber er hat mir gesagt, er bekomme fast jeden Tag Telefonanrufe von Eltern. Und ihnen gab er durchaus Ratschläge. Er war ein ruhiger, nahbarer Mensch. Ein Mann, der Zuversicht ausstrahlte. Ich bin auch sehr beeindruckt, wie er sein Lebenswerk vollendet hat.

Mit seinem letzten Buch «Zusammen leben», das nur wenige Monate vor seinem Tod erschienen ist.
Remo Largo sagte schon im Voraus, das werde sein letztes Buch sein. Darin zieht er Bilanz, führt nochmals aus, was die Individualität des Kindes ausmacht, fasst seine Anliegen zusammen, fordert auch die Aufhebung der modernen Kleinfamilie. Für mich ist das Buch ein Appell, aber auch ein Hadern damit, dass das, was er dreissig Jahre lang erzählt hat, in der Gesellschaft nur zögerlich angekommen ist. In diesem letzten Buch spricht er auch von unserer Individualität, die wir solidarisch leben sollten. Ein Vermächtnis! Ich hoffe, dass Remo Largos Botschaft noch lange präsent bleibt.

Einen Überblick über Remo Largos Lebenswerk und seine wichtigsten Erkenntnisse gibts in der aktuellen Ausgabe der «Schweizer Illustrierten» sowie demnächst bei uns auf www.schweizer-illustrierte.ch/family.

Von Christa Hürlimann am 20. November 2020 - 17:27 Uhr