Wenn ein halbjähriges Baby noch nicht durchschläft, werden manche Eltern etwas ungeduldig. Zu recht, oder sind die Erwartungen zu hoch?
Das ist typisch für unsere westliche Welt, hier finden viele Eltern, im Alter von einem halben Jahr sollte ein Baby langsam die Nacht durchschlafen. In anderen Kulturen ist das ganz anders: In Indien zum Beispiel hat niemand diese Erwartung vor fünf, sechs Jahren, ebensowenig in Naturvölkern – und übrigens auch bei unseren Vorfahren. Der Mensch an sich ist nämlich kein «Durchschläfer», früher hat er nur vier Stunden am Stück geschlafen, dafür öfter. Erst mit der Industrialisierung haben wir uns angewöhnt, acht Stunden am Stück zu schlafen und sonst den ganzen Tag wach zu sein. Aber auch heute noch schlafen Erwachsene nicht die ganze Nacht durch, unser Schlaf ist in Zyklen aufgeteilt. Und Kinder brauchen eben oftmals noch Hilfe, um in den nächsten Zyklus zu kommen.
Haben diese Erwartungen mit dem teilweise intensiven Alltagsrhythmus der Familien zu tun?
Genau, wir Eltern brauchen die Erholung, weil wir tagsüber funktionieren müssen – bei der Arbeit oder zu Hause oder beides. Und wenn die Mütter nach vier Monaten Mutterschaftsurlaub wieder arbeiten gehen, geschieht dies genau zu einem Zeitpunkt von grossen Entwicklungsschritten beim Kind. Aber auch sonst sind die Erwartungen an Kinder heute sehr hoch. Es muss früh ruhig sitzen können und in unserer Gesellschaft funktionieren. Und wenn es früh durchschläft, finden die Eltern: «Wir habens im Griff». Dabei ist es natürlich, dass sich das Kind meldet, wenn es erwacht und merkt, es ist allein. Wir Erwachsenen holen uns auch Hilfe, wenn wir ein Problem haben – aber bei Kindern versucht man dies abzutrainieren. Doch das ist fragwürdig, denn wir wünschen doch jedem Kind für die Zukunft, dass es hinstehen und seine Bedürfnisse mitteilen kann.
Also ist der Schlüssel zu einem gut schlafenden Kind mehr Entspannung im Alltag?
Schlafen kann ja jedes Kind, aber sich zu entspannen und vertrauen muss es lernen. Das Empfinden von Babys ist noch heute über Monate hinweg mit jenem eines Steinzeitbabys zu vergleichen: Sein Bindungsverhalten wird aktiviert, wenn es draussen dunkel wird und es müde und allein ist. Wie bei uns Erwachsenen ist der Schlaf eines Babys in Zyklen unterteilt, es startet mit einem empfindlichen Schlaf, fällt dann in den Tiefschlaf, und nach etwa 50 Minuten folgt wieder ein halbwacher Zustand. Dann muss es sich vergewissern, dass es in Sicherheit ist, um beruhigt wieder in den Tiefschlaf zu finden.
Warum ist der Schlaf überhaupt so unterteilt?
Dass das Kind immer wieder erwacht, hat viele Vorteile, das muss man sich als Eltern bewusst sein. Es ist gut für die Entwicklung des Gehirns, weil es so immer wieder neue Impulse bekommt. Zudem wird ein Kind mehr gestillt, wenn es öfter erwacht, das regt die Milchproduktion bei der Mutter an, sodass die Stillzeit verlängert werden kann. Das regelmässige Erwachen stärkt auch die Eltern-Kind-Beziehung und dient der Prophylaxe gegen den plötzlichen Kindstod. Nicht durchzuschlafen ist also nicht für das Kind ein Problem, sondern für die Erwachsenen – und darum schauen wir uns dieses Problem in der Schlafberatung nach dem Konzept von «1001kindernacht®» ganzheitlich an.
Was dürfen Eltern denn erwarten, wann sollte ein Kind etwa durchschlafen?
Etwa mit drei Jahren. Aber wenn es dann nicht funktioniert, braucht man nicht gleich besorgt zu sein. In den ersten drei Jahren – oder eben in 1001 Nacht, wie es der Name unseres Beratungskonzepts sagt – sollte es uns gelingen, den Kindern eine positive Verknüpfung zum Thema Schlaf zu ermöglichen. Kinder verbinden alles mit einer Emotion. Kein Kind will die Eltern ärgern oder manipulieren mit nächtlichem Weinen, etwas «geplant» machen kann es überhaupt erst mit drei oder vier Jahren.
Drei Jahre nicht richtig schlafen können, das ist aber eine lange Zeit für Eltern, die voll im Leben stehen und an allen Fronten gefragt sind …
Wichtig ist, dass man sich wirklich Hilfe organisiert, dass man nicht alles allein zu machen versucht. Früher hat ja ein ganzes Dorf die Kinder miterzogen, heute haben viele Eltern weniger Entlastung, weil zum Beispiel die Grosseltern nicht grad ums Eck wohnen oder man relativ anonym in einer Stadt lebt. Deshalb ist es umso wichtiger, von Anfang an andere Leute in die Kinderbetreuung zu involvieren. Das könnten auch freiwillige Helferinnen der Organisation «wellcome – Praktische Hilfe nach der Geburt» sein oder vom Roten Kreuz. Auch als Paar sollte man sich gut organisieren und absprechen, wer was übernimmt und welche Ansprüche bestehen. Und sich nicht immer gleich um den Haushalt kümmern, wenn das Baby schläft, sondern sich auch mal hinlegen und eine Pause gönnen. Das dient auch der Burnout-Prophylaxe.
Was können sie grundsätzlich empfehlen, was brauchen Kinder für guten Schlaf?
Die Nacht fängt am Tag an! Wie ein Kind in der Nacht schläft, hängt auch von den Schläfchen ab, die es tagsüber macht. Der Schlafbedarf wird oft überschätzt. Kinder, die allgemein weniger Schlaf brauchen, haben eher Probleme, nachts durchzuschlafen. Auch die Aktivitäten am Tag haben Einfluss auf die Nacht: Viel nach draussen an die frische Luft zu gehen ist wichtig. Abends müssen sich manche Kinder nochmals so richtig austoben, andere brauchen eher ein ruhiges Programm, um herunterfahren zu können. Allgemein reagieren sensible Kinder, die Reize stärker aufnehmen, auch in der Nacht schneller. Und auch die Stimmungsübertragung darf man nicht unterschätzen: Wenn Eltern ständig daran denken, was sie noch alles erledigen müssen, und dass das Kind doch endlich schlafen möge, spüren das die Kleinen. Dann lieber mal Kopfhörer mit Meditationsmusik aufsetzen, um den Fokus auf etwas anderes zu lenken.
Wie erörtert man den Schlafbedarf eines Kindes?
Mit einem Schlafprotokoll. Erst muss das Neugeborene aber überhaupt einen Tag-/Nacht-Rhythmus entwickeln, das beginnt etwa nach einem Monat. Und dann geht es darum, sein Kind richtig kennenzulernen: Was für ein Temperament hat es? Wie stark reagiert es auf Reize von aussen? In welcher Umgebung fühlt es sich am wohlsten?
Wie schaut denn die ideale Schlafumgebung aus?
Die Schlafbereiche muss man auf jeden Fall überdenken: Soll es bei uns aussehen wie bei «Schöner wohnen», oder wollen wir uns für die anstrengende Zeit mit Kleinkindern einfach möglichst praktisch einrichten? Vielleicht mit einem Familienbett? Oder getrennt schlafenden Ehepartnern? Ziel ist, dass weder das Kind noch die Eltern nachts aufstehen und in ein anderes Zimmer gehen müssen, damit alle nach einem Unterbruch möglichst schnell weiterschlafen können.
Gibt es weitere Ideen, die Eltern in dieser anstrengenden Zeit mit wenig Schlaf helfen können?
Wichtig ist, dass die Eltern ihr Umfeld von Beginn weg miteinbeziehen, damit sie Anlaufstellen haben, wenn sie am Anschlag sind oder auch mal spontan jemanden brauchen. Und dass sie im Haushalt kleine Dinge vereinfachen und sich als Paar gut organisieren, da kann es auch nicht schaden, mal eine Zeit lang ganz «bünzlig» einen Wochenplan zu führen. Oft hilft es, mit irgend jemandem zu reden, um neuen Input zu bekommen. Das können auch einfach gute Freunde sein, die selber Kinder haben und Erfahrungen mit anstrengenden Schlafphasen gesammelt haben. Und dann helfen natürlich Gespräche mit Fachleuten: Auch medizinische Ursachen wie eine Ohrenentzündung, die von aussen nicht sichtbar ist, können ein Kind am Schlafen hindern. Hier hilft ein Besuch beim Kinderarzt, der das Kind medizinisch untersucht. Auch die Mütter- und Väterberatungen können mit Tipps helfen. Und um sich intensiver damit zu beschäftigen eignet sich eine individuelle Schlafberatung. Wir sind flexibel und können schnell Termine abmachen. Doch wirkliche Veränderungen brauchen natürlich Zeit und Energie.
Was ist das Spezielle an ihrer Art von Beratung?
Die Beraterinnen, die nach dem Konzept von «1001kindernacht®» vorgehen, besuchen die Familien zu Hause. Wir arbeiten bindungsorientiert, kindgerecht, ganzheitlich und langfristig sinnvoll. Ziel ist, beim Kind eine dauerhaft positive Verknüpfung von Schlaf und Entspannung zu stärken, anstatt dass es das Schlafengehen mit Angst und Alleinsein verbindet. Wir geben keine pauschalen Empfehlungen ab, sondern suchen mit den Familien gemeinsam individuelle Lösungen. Dabei berücksichtigen wir die Bedürfnisse aller Familienmitglieder. Die Beraterinnen haben alle eine medizinische Grundbildung und tauschen sich regelmässig aus, sodass sie immer auf dem neuesten Stand sind.
Was haben sie selber für Erfahrungen gemacht, hatten sie «gute Schläfer»?
Bei meiner Arbeit als Pflegefachfrau und nun als Schlafberaterin habe ich schon ganz viele verschiedene Erfahrungen sammeln und Ideen entwickeln können. Bei unseren eigenen beiden Kindern mussten mein Mann und ich auch Nacht für Nacht dazu lernen. Beim ersten Kind versuchten wir es noch innerhalb des ersten Jahres mit einem eigenen Bettchen, merkten dann aber schnell, das ist nicht seins, und liessen ihn bei uns schlafen. Als unser zweites Kind auf die Welt kam, haben wir Eltern uns anfangs aufgeteilt, damit sich nachts je ein Erwachsener um ein Kind kümmern kann. Mittlerweile haben beide Kinder ein eigenes Zimmer – sie schlafen aber meistens zusammen in einem Zimmer.
Raphaela Bichsel ist diplomierte Pflegefachfrau und Schlafberaterin nach dem Konzept von 1001kindernacht® von Sibylle Lüpold, Autorin des Buches «Ich will bei euch schlafen! (Ein)schlafen mit Co-Sleeping». Raphaela Bichsel hat selber zwei Kinder, mit denen sie das Schlafen über längere Zeit lernen musste. Mehr Infos zu ihrem Beratungsangebot: www.schlaflicht.ch