Es fängt schon mit der Knolle an: Die perfekte Herbstrübe (so der korrekte Name, im Dialekt einfach Räbe genannt) sollte nicht zu gross und nicht zu klein sein. Möglichst rund, ohne gröbere Dellen. Die Lila- und Weisstöne im Verhältnis eins zu eins. Und dann das Schnitzen selbst, oh je.
In der Schule machen es die Kinder immerhin alleine. Mama muss dann einfach nur daran denken, ihnen ein Schnitzwerkzeug mitzugeben (unbedingt markieren und dem Kind zehnmal sagen, dass es das Messer wieder nach Hause bringen soll. Es bleibt trotzdem meist verschollen). Ihr ahnt es, es geht um den Räbeliechtli-Umzug. Diese an sich schöne Tradition im alemannischen Sprachraum. Ich frage mich dennoch jedes Jahr: Warum müssen wir uns das antun?
Im Kindergarten dürfen die Eltern, so zumindest vor zehn Jahren, persönlich antraben und die elende Räbe aushöhlen. Nicht zu nah am Rand, da sonst ein Loch droht, aber auch nicht zu klein (sonst passt ja kein Rechaud-Kerzli mehr rein). Seufzend übernehme ich das angefangene Kinderwerk. Die anfängliche Euphorie ist beim Kleinen rasch verflogen, lieber isst er meine mühselig herausgekratzten Stücke – und kriegt danach Bauchweh und Durchfall. Doch die grösste Herausforderung liegt noch vor mir: Die Aussenseite der Räbe möglichst kunstreich zu verzieren.
«Was möchtest du denn gern?», frage ich mit gespieltem Interesse. «Sterne und meinen Namen!», ruft das Kind begeistert. Ich greife nach einem Förmli und denke danach: Okay, das sieht ungefähr nach einem Stern aus. Doch der Name, mon Dieu, der Name: Ich kracksle die sieben Buchstaben irgendwie um die Rebe herum. Es sieht furchtbar aus. Entsprechend die Miene des Juniors.
«Eltern müssen an einem Räbeliechtli-Umzug vor allem eines tun: Dafür sorgen, dass das Kerzli immer brennt.»
Fast so tricky, sind die Löcher für die Fäden (auch hier wieder: nicht zu nah am Rand, sonst reisst das Teil) und das Deckel-Ding (das bei mir immer irgendwie schief hängt). Egal, es ist getan. Räbe nach Hause nehmen, ins Wasser legen (sonst schrumpft sie) und warten, bis der Tag des Umzugs kommt. Dann fängt der eigentliche Horror erst an.
Im Idealfall regnets an diesem Novemberabend nicht und die Temperatur liegt noch nicht unter dem Gefrierpunkt (hatten wir alles schon). Ich packe Kind und Räbe und ziehe los zum Pausenhof. Und warte. Ein gefühltes Leben lang. Bis sich sämtlich Eltern und Kinder aus dem Quartier eingefunden haben und die Blaskappelle – ja, ihr hört richtig – sich an der Spitze des Umzugs positioniert hat.
Ich zünde das Kerzli an und denke zufrieden an die fünf Ersatzkerzli in meiner Manteltasche. Es ist schliesslich nicht mein erstes Mal und ich weiss: Eltern müssen an einem Räbeliechtli-Umzug vor allem eines tun: Dafür sorgen, dass das Kerzli immer brennt (und man das Kind im Dunkeln nicht verliert, weil man gerade mit einer Nachbarin schwatzt).
Ich bin bereit. Die Menge ist es nicht. Nur schleppend setzt sich alles in Bewegung. Mit Pauken und Trompeten und den Hits der Blaskapelle trotten quengelige Kinder und gelangweilte Eltern los. Es wechselt der Sechseläute-Marsch, mit den Guggen-Hits «Brazil» und «Come fly with me» (Oh, wie gern flög ich jetzt davon. Egal wohin. Hauptsache weit, weit weg). Aua, schreit mein Ohr. Aua, mein Herz.
«Das Kerzli ist wieder erlöscht. Ich klaube ein Zündhölzli heraus, verbrenne mir die Finger unter meinem schiefgeratenen Räbendeckel, während die Blasmusik nochmals ihre Hits runtertschädderet.»
Warum können wir nicht die Klassiker singen? «Ich gah mit miner Laterne», «Laterne, Laterne, Sunne, Mond und Schterne» oder «Rääbeliechtli, wo gasch hii»? Ich weiss, die meisten Eltern singen nicht gern und es wäre wohl ein kläglicher Gesang. Dann aber lieber nichts, als Frank Sinatra in Marsch-Version!
Die Route wird zum Glück jedes Jahr kürzer. Wie eine Handorgel bewegen sich Eltern und Kinder durchs Quartier. Dazwischen immer wieder Lücken. Ob das von Aussen schön aussieht? Wohl kaum. In der Hälfte gibts einen Halt. Langsam nähern wir uns dem ersten Höhepunkt – der Ankunft vor dem Altersheim. Dort werden die Kids schon voller Vorfreude von den Bewohnern empfangen. Im Dunkeln sieht man leider nicht so viel.
Die Kinder wollen weiter. Zerren am Arm von Mama oder Papa. Das Kerzli ist wieder ausgelöscht. Ich klaube ein Zündhölzli heraus, verbrenne mir die Finger unter meinem schiefgeratenen Räbedeckel, während die Blasmusik nochmals ihre Hits runtertschädderet. Ein paar Hände klatschen, weiter gehts, dem zweiten Höhepunkt entgegen: Zurück auf dem Pausenhof gibts Punsch und einen Butterweggen. Nur für die Kinder. Mir egal, ich hab Hunger. Und will nach Hause. Sofort! Auf dem Weg denke ich wie schon seit Jahren: Ich muss mal nach Richterswil. Dieser Umzug soll richtig schön sein. Sagt man.
Der Räbeliechtli-Umzug in Richterswil findet übrigens am Samstag, 9. November statt. Weitere Infos findet ihr hier.