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Selektiver Mutismus

Wenn das Sprechen für Kinder zur Mutprobe wird

Selektiver Mutismus führt dazu, dass betroffene Kinder bei fremden Menschen, im Kindergarten oder in der Schule verstummen, obwohl sie sprechen könnten. Bis zu zwei Prozent der Kinder leiden an dieser Sprechblockade. Die Mutter eines betroffenen Mädchens und eine Expertin für Mutismus erzählen, wie der Weg aus der Stille gelingt.

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Selektiver Mutismus führt dazu, dass das Sprechen für Kinder zur Mutprobe wird

Kinder mit selektivem Mutismus verfügen oft über einen grossen Wortschatz, verstummen aber, wenn sie sich nicht sicher fühlen.

Getty Images

Gabriela Keller erinnert sich noch genau an den Abend, an dem sie zum ersten Mal den Begriff «selektiver Mutismus» gehört hat. Es war vor rund drei Jahren, als die Kindergärtnerin ihrer Tochter Sophie ihr und ihrem Mann mitteilte, dass Sophie davon betroffen sein könnte. «Die Kindergärtnerin tat das auf behutsame Weise – trotzdem war der Schock gross», sagt Gabriela Keller, die im echten Leben anders heisst und zum Wohle ihrer Tochter anonym bleiben möchte.

Selektiver Mutismus ist eine emotional bedingte Sprechblockade, die nach dem internationalen Diagnosesystem ICD-11 zu den Angststörungen zählt und im frühen Kindesalter beginnt. Spezialisierte Fachpersonen bezeichnen selektiven Mutismus jedoch treffender als unwillkürliche Stressreaktion des autonomen Nervensystems. Betroffene sind im Grunde in der Lage zu sprechen und tun dies in vertrauter Umgebung auch. Sobald sie diese jedoch verlassen oder mit fremden Personen in Kontakt kommen, verstummen und erstarren sie plötzlich. Das geschieht, weil ihr Nervensystem sie als Schutzreaktion sofort in einen «freeze» Zustand versetzt. . 

In jedem Schulhaus mehrere betroffene Kinder

Schätzungsweise sind 7 bis 20 Kinder von 1000 von selektivem Mutismus betroffen. Die Psychologin Franziska Florineth sagt: «In jedem grösseren Schulhaus sitzen eine Handvoll Kinder mit selektivem Mutismus.» Tendenziell würden es immer mehr werden. Da diese Kinder aber oft sehr pflichtbewusst sind und den Unterricht nicht stören, gehen sie im Schulbetrieb häufig unter. «Es ist deshalb wichtig, Lehrpersonen auf diese sehr ernstzunehmende Störung, die Auswirkungen auf die ganze Lebenskarriere hat, zu sensibilisieren», sagt Franziska Florineth. 

Für Eltern sei es schwierig zu erkennen, dass ihr Kind an selektivem Mutismus leidet. «Die Kinder haben meist zwei Gesichter», erklärt die Psychologin. Zuhause seien sie mitunter laut, aktiv und fordernd, im Kindergarten oder in der Schule jedoch defensiv, schüchtern und zurückgezogen. Manchmal wird auch mit einzelnen Verwandten nicht gesprochen. Das Verstummen tritt aber hauptsächlich im Bildungskontext auf. So verstummt das Kind etwa, sobald es sich der Schule nähert oder es schweigt eisern in Anwesenheit einer bestimmten Lehrkraft oder während des ganzen Unterrichts. «Erfahren die Eltern, dass ihr Kind im schulischen Rahmen gar nicht oder kaum spricht, verstehen sie die Welt nicht mehr.»

Genau so erging es Gabriela Keller. Sie sagt: «Sophie sprach daheim wie ein Buch und hatte früh einen grossen Wortschatz.» Im Kindergarten machte sie davon jedoch selten gebraucht. Fühlte sie sich unbeobachtet und sicher, konnte sie mit einem vertrauten Gspänli zwar normal sprechen. Realisierte sie aber, dass ihr andere Kinder oder Erwachsene zuhören, verstummte sie. Im Nachhinein erinnert sich Gabriela Keller an Situationen, in denen Sophie mit den Nachbarskindern spielte, deren Eltern auf Fragen aber nicht antwortete. Sie habe sich deshalb jedoch nie Sorgen gemacht und sei davon ausgegangen, dass ihre Tochter bloss schüchterner ist als andere Kinder. «Aus heutiger Sicht empfinde ich dieses Denken als ignorant», sagt sie selbstkritisch. Für sie sei es aber logisch gewesen, dass ihre Tochter eher zurückhaltend sei, da auch sie und ihr Mann keine lauten Kinder waren. 

Gute Heilungschancen dank Therapie

Eine familiäre Veranlagung für ein gehemmtes Temperament ist einer von verschiedenen Risikofaktoren für selektiven Mutismus. Weitere sind unter anderem eine Sprachentwicklungsstörung, Mehrsprachigkeit, Migration sowie prä- und postnatale Komplikationen. 

Behandelt man den Mutismus frühzeitig, ist die Chance gross, dass er verschwindet. «Die Erfolgschancen liegen bei über 70 Prozent», sagt Franziska Florineth. Dass Betroffene den Mutismus ohne Therapie überwinden, komme hingegen selten vor – «Aber es ist nie zu spät für eine Behandlung.»

Gabriela Keller suchte rasch Hilfe für ihre Tochter. Nach dem Elterngespräch googelte sie sofort nach Mutismus. Der Begriff löste in ihr Ängste aus und ihre Gedanken kreisten um die Fragen: «Was ist das? Wie schaffen wir das? Ist es wirklich das?» Als schliesslich immer mehr Anzeichen darauf hindeuteten, dass Sophie tatsächlich von Mutismus betroffen ist, wandte sie sich an Franziska Florineth.

Bereits beim ersten Telefonat konnte ihr die Psychologin Ängste nehmen: «Frau Florineth versicherte mir, dass Sophie geholfen werden kann», erinnert sich Gabriela Keller. Die Expertin habe aber auch gesagt, dass selektiver Mutismus nicht nach zwei, drei Therapiestunden verschwindet, sondern Geduld gefordert ist.

Franziska Florineth

Franziska Florineth

ZVG

Franziska Florineth ist Fachpsychologin für Psychotherapie, Integrative Kinder- und Jugendpsychotherapeutin sowie zertifizierte ADHS-Elterncoach und Kinderhypnotherapeutin. Sie ist auf selektiven Mutismus spezialisiert und hat schon über 100 Kinder therapiert. Zudem hat sie das Buch «Das stille Kind ist das vergessene Kind» (Hogrefe, 2024) geschrieben. kindertherapie-winterthur.ch 


 

Bevor die Therapie startete, besuchte Franziska Florineth Sophie zuhause. «Das Elternhaus ist der Safe Place der Kinder», sagt die Expertin. Darum seien Familienbesuche wichtig. Sie würden den Kindern zeigen, dass die Therapeutin eine willkommene Person ist: «Oft wechseln sie schon beim Spielen im Kinderzimmer erste Worte mit mir und das Sprechen im fremden Therapiesetting gelingt dann meist viel rascher». 

Auch Eltern und Lehrpersonen sind gefordert

Im Grunde wollen diese Kinder auch kommunizieren. Gelingt der sprachliche Austausch nicht, ist das oft mit grossem Leid verbunden. Lehrpersonen sollten deshalb spätestens dann genauer hinschauen und sich an eine Fachperson wenden, wenn ein deutschsprachiges Kind nach zwei Monaten noch nicht spricht. Fremdsprachigen Kindern gibt man zirka sechs Monate Zeit. 

Das Gelingen der Therapie ist dann auch davon abhängig, dass nebst den Eltern auch die Lehrpersonen eng mit der Therapeutin zusammenarbeiten. Schliesslich sollte auch die Schule oder der Kindergarten zu einem Safe Place werden – einem Ort, an dem sich das Kind wohl fühlt und seinen Mitmenschen vertraut. Dies gelingt in der Regel schrittweise. Die Lehrperson könnte beispielsweise einen fixen Zeitraum pro Woche bestimmen, in welchem sie mit dem mutistischen Kind allein kleine Arbeiten erledigt. Nach und nach könnte sie weitere Kinder in diese speziellen Tätigkeiten einbeziehen. Kann ein Kind nicht vor anderen vorlesen, so könnte es die Leseaufgabe zuhause aufnehmen und per Sprachnachricht an die Lehrperson senden. 

Die Eltern sollten das Sprechen in der Öffentlichkeit mit dem Kind immer wieder in kleinen Schritten und in Absprache mit der Therapeutin üben. Das führt zu einer nachhaltigen Stabilisierung der Emotionen und baut die Angstblockaden mit der Zeit ab. Gabriela Keller hat ihre Tochter zum Beispiel beim Einkaufen stets ermutigt, auf Fragen zu antworten – auch wenn es nur ein knappes «Ja» oder «Nein» war. Klappte es nicht, stand sie für Sophie ein und erklärte: «Wir üben das mutige Sprechen noch.» Generell habe sie immer positive Formulierungen gewählt und das Adjektiv «schüchtern» aus dem Vokabular verbannt. So sagte sie zu Sophie nie: «Jetzt warst du gar nicht schüchtern», sondern: «Wow, jetzt warst du mutig». 

Dank der Therapie erzielte Sophie rasch Fortschritte. Bald fand sie etwa den Mut, nach Hilfe zu fragen, wenn sie bei einer Aufgabe im Kindergarten anstand – für Sophie ein riesiger Schritt. Was Gabriela Keller besonders beeindruckt: «Sophie nahm jede Herausforderung an, hat stets gekämpft und sich nie verweigert.» Kürzlich habe sie sogar im Schultheater eine Sprechrolle angenommen. Für Gabriela Keller ist klar: «Das haben wir Frau Florineth zu verdanken, die nicht nur die Therapeutin von Sophie war, sondern im Grunde auch von mir und meinem Mann.» 

Auch für die Lehrerinnen von Sophie findet die Mutter nur lobende Worte: «Mir ist klar, dass sie einen herausfordernden Job haben. Trotzdem nahmen sie sich viel Zeit für Sophie, tauschten sich mit der Therapeutin aus und zeigten Verständnis.» Mittlerweile ist Sophie in der zweiten Klasse und hat die Therapie auf eigenen Wunsch beendet – Und für Gabriela Keller hat der Begriff «Mutismus» seinen Schrecken verloren.

Fabienne Eichelberger von Schweizer Illustrierte
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Von Fabienne Eichelberger am 11. April 2025 - 18:00 Uhr