Ab wann werden Eltern ihren Kindern peinlich?
Ich glaube, das kann relativ früh anfangen. Nämlich wenn die Kinder im Alter von fünf, sechs Jahren merken, dass es unterschiedliche Lebensmodelle gibt, unterschiedliche Sichtweisen, dass man Dinge verschieden beurteilen kann. Wenn dem Kind bewusst wird: Hm, meine Eltern sind in den Augen von Anderen vielleicht ein bisschen komisch. Es gibt Kinder, die schämen sich tatsächlich schon vor der Pubertät für ihre Eltern. In der Pubertät selber entwickelt sich das Fremdschämen aber oft viel ausgeprägter.
Wofür schämen sich Kinder denn am häufigsten fremd?
Ich würde sagen, es ist alles, was gegen Aussen sichtbar wird. Das kann Aussehen und Kleidung der Eltern betreffen genauso wie deren Verhaltensmuster oder Lebenshaltung und Beruf.
«Für die Entwicklung des Kindes ist das Fremdschämen ein wichtiger Schritt.»
Sabine Brunner vom Marie Meierhofer Institut für das Kind
Welcher entwicklungspsychologische Schritt steckt hinter dem Fremdschämen?
Als kleines Kind ist man ja eng verbunden mit seinen Eltern oder anderen Bezugspersonen. Man liebt sie sehr und wird von ihnen ebenfalls sehr geliebt. Irgendwann entdeckt man aber immer mehr von der Welt und relativiert sein erstes absolutes Weltverständnis. Man beginnt, Dinge zu hinterfragen und sich eine eigene Meinung anzueignen. Man entwickelt eigene Idealvorstellungen.
Ist das ein wichtiger Schritt?
Für die Entwicklung des Kindes schon, denn es ist ein Zeichen von Ablösung und Autonomie. Das bedeutet aber nicht, dass sich gezwungenermassen jedes Kind für seine Eltern schämen muss.
Wie kann ich als Elternteil darauf reagieren, wenn mein Kind sich für mich schämt?
Ich finde es gut, wenn die Eltern ihren Kindern zuhören und das ernst nehmen, was ihre Kinder gschämig finden. Das darf man sich zu Gemüte führen, immerhin hält das Kind einem auch einen Spiegel hin. Vielleicht animiert es einen, sich selbst zu hinterfragen und dazuzulernen.
«Vielleicht steht das Fremdschämen für andere, grössere Konflikte.»
Sabine Brunner
Läuft man nicht Gefahr, Authentizität zu verlieren, wenn man sich an der Meinung des Kindes orientiert?
Wenn man merkt, nein, ich möchte mich nicht verändern, ich finde mich gut so, wie ich bin, dann kann man dazu stehen und dies auch dem Kind gegenüber vertreten. Authentisch zu bleiben ist wichtig! Ebenso, wie auf andere einzugehen. Beides schliesst sich nicht gegenseitig aus.
Was wäre eine falsche Reaktion?
Wenn Eltern darüber lachen, dass ihr Kind sich für sie schämt, anstatt es ernst zu nehmen. Sich lustig zu machen bedeutet, dem Kind keine eigene Haltung zuzugestehen. Und wenn man das Kind nicht als eigene Persönlichkeit akzeptiert, die eigene Gefühle und Einschätzungen entwickelt, droht dies, die Eltern-Kind-Beziehung zu belasten - genauso wie die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes.
Gibt es eine Grenze des Normalen? Oder anders gefragt: Wann sollten Eltern Hilfe suchen?
Immer ein Alarmsignal ist es, wenn ein riesiger Konflikt in der Familie entsteht, mit dem man alleine nicht mehr klarkommt. Oder wenn das Kind massiv unter dem Fremdschämen leidet und man ihm nicht helfen kann dabei. Dann sollte man genau hinsehen. Denn vielleicht steht das Fremdschämen für andere, grössere Konflikte.
Wann hört das Fremdschämen wieder auf?
Das kommt drauf an, wie gut man sich von den Eltern abnabeln kann. Die Hoffnung besteht, dass man sich mit 18, 20 oder 25 als wirklich eigenständige Person anschaut und sich nicht mehr verantwortlich fühlt für das Verhalten der Eltern. Dann hört auch das Fremdschämen auf. Wobei, es ist ja immer auch ein Zeichen der Verbundenheit, wenn man sich schämt für jemanden.
Sabine Brunner ist Psychologin und Psychotherapeutin für Kinder und Familien am Marie Meierhofer Institut für das Kind.