Die Rassismuskritik an Schweizer Schulbüchern stammt von der Sozialarbeiterin Mandy Abou Shoak und Rahel El-Maawi, Organisationsberaterin für diversitätsorientierte Betriebskultur. Untersucht wurden fünf Deutsch – und vier Geschichtsbücher, die meisten in den letzten vier Jahren neu aufgelegt. Die Autorinnen zeigen die Problematik in drei Broschüren auf. Sie möchten damit für eine rassismuskritische Verwendung der Lehr- und Lernmaterialen sensibilisieren.
In den Lehr- und Lernmaterialien finden sich nach wie vor rassistische Erzählstränge, die sich in Wort und Bild manifestieren. So zum Beispiel, wenn schwarze Menschen mit rassistischen Begriffen bezeichnet oder aber in ausschliesslich zudienenden Funktionen dargestellt werden.
Rahel El-Maawi, wie kamen Sie darauf, dass man Schweizer Schulbücher im Hinblick auf Rassismus untersuchen müsste?
Mandy Abou Shoak und ich kennen einander aus einem Netzwerk für Schwarze Menschen namens Bla*Sh. Dort sassen wir mit Lehrpersonen zusammen, welche uns erzählten, dass trotz Lehrplan 21 sehr viele Schulbücher immer noch stereotype rassistische Bilder und Texte enthalten. So kam es, dass wir fünf Deutsch- und vier Geschichtsbücher analysierten, welche heute in der Oberstufe in Gebrauch sind.
Ihre Schlussfolgerung ist, dass die Bücher «im Kern rassistisch sind». Was bedeutet das?
Wir stellten fest, dass in einigen Büchern die Hierarchisierung von Menschen immer noch sehr stark ist – also der Gedanke, dass es zivilisierte, fortschrittliche Kulturen gibt, und eben «andere». Dies ist der rassistische Kern. Natürlich hat man auch das Schulmaterial immer wieder einmal überarbeitet und rassistische Bilder oder Wörter ersetzt, aber die Hierarchisierung und die Geschichte drumherum ist dieselbe geblieben. Was oft auf den ersten Blick nicht mehr erkennbar ist.
Wie definieren Sie Rassismus?
Man weiss aus Studien, dass sehr wenige Leute eine klar rassistische Ideologie vertreten und bewusst einen Unterschied zwischen Menschen machen. Ich verstehe Rassismus als etwas, aus dem Privilegien entspringen, und als etwas, das wir schon von Kindsbeinen an lernen. Wir sind mit Vorurteilen aufgewachsen, von denen wir uns eher unbewusst leiten lassen.
«Wenn in den Schulbüchern vermittelt wird, dass einige Menschen ganz selbstverständlich dazugehören und andere nicht, dann führt das dazu, dass sich einige Kinder tatsächlich als minderwertig wahrnehmen.»
Dann sind wir alle Rassisten?
Nein. Wir sind rassistisch sozialisiert, weil wir in einer solchen Kultur aufgewachsen sind. Nochmal: die wenigsten Leute wollen rassistisch handeln – auch die Macher der Schulbücher nicht. Aber es geht nicht um die Absicht, sondern um die Wirkung.
Nach welchen Kriterien wurde das Material bewertet?
Wir schauten darauf, wer in welcher Art und Weise in Text und Bild repräsentiert wird, und wer nicht. Schwarze Menschen, People Of Colour oder Migrantinnen und Migranten kommen oft einfach gar nicht vor.
Warum ist das so ein Problem? Die Kinder wissen doch aus ihrem Alltag, dass unsere Gesellschaft mittlerweile divers ist. Müssen ihre Schulbücher das unbedingt widerspiegeln?
Ja. Auch nicht-weisse Kinder müssen sich von ihrem Schulmaterial angesprochen fühlen. Es ist ein Privileg von weissen Kindern, zu sehen, dass sie in den Büchern repräsentiert sind, sie erfahren damit indirekt, dass sie wichtig sind. So sollte es allen Kindern gehen. Schulbücher haben eine hohe Autorität, sie sind der Werte-Kodex, der an die nächste Generation weitergegeben wird. Wenn in den Schulbüchern vermittelt wird, dass einige Menschen ganz selbstverständlich dazugehören und andere nicht, dann führt das dazu, dass sich einige Kinder tatsächlich als minderwertig wahrnehmen. Das liefert auch Gründe für Sticheleien. Das kommt viel öfter vor, als man glaubt.
Rassistische Sticheleien aufgrund von Schulbüchern?
Ja, ich weiss von einigen Fällen, in denen aufgrund von stereotypen Bildern in Schulbüchern gelacht oder Affenlaute gemacht wurden. Das führt zu rassistischem Mobbing.
Können Sie ein konkretes Beispiel eines Falles von Rassismus in einem Deutschbuch nennen?
In Deutschbüchern sieht man oft eine Exotisierung von anderen Kulturen. Das ist die moderne Art von rassistischem Denken. Man bindet gewisse Eigenschaften nicht mehr an eine Gruppe von Menschen, sondern an eine Kultur. Und man macht das immer noch mit den gleichen plakativen Stereotypen wie vor vierzig Jahren. Konkret: Wenn es um die Schweizer geht, sind die Bebilderungen dazu oft sehr urban, wenn es zum Beispiel um indigene Menschen geht, werden sie in der Wildnis dargestellt. Also wir, die «Zivilisierten», und sie, die «Wilden».
Nun gibt es Stimmen die sagen, dass gewisse Worte einfach zu unserer Sprache gehören, und wir diese ja nicht ausgrenzend meinen.
Sprache ändert sich, es gibt keinen Grund dafür, dass gewisse Worte auf ewig bleiben müssen. Bei einigen rassistisch geprägten Ausdrücken ist es wichtig, dass wir alle uns bewusst sind, dass diese Begriffe verletzten.
Ist das nicht der Fall?
Viele nehmen die verletzten Stimmen nicht ernst. Sie halten explizit an gewissen Begriffen fest, damit sie sich nicht selbst hinterfragen müssen. So wird aber eine rassistische Sprache verteidigt. Gleichzeitig wird nicht-weissen Menschenvorgeworfen, sie seien zu sensibel, statt zuzugeben, dass man doch eigentlich ganz einfach ein anderes Wort verwenden könnte, wenn es andere verletzt. Und Worte verlernen, um Neue zu nutzen, das können wir alle: Welches Kind weiss den heute noch, was die PTT ist? Oder ein Raider-Riegel?
«In den Geschichtsbüchern werden europäische Männer der Kolonialzeit als Helden dargestellt. Dabei wird nicht auf die gewaltvolle Geschichte von Mord, Vergewaltigung, Landraub und Verschleppungen eingegangen.»
So geschehen in der berühmten «Schokokuss»-Diskussion. Meine Tochter wurde wegen ihrer sehr hellen Haut schon «Fleischkäse» gerufen. Wo liegt da der Unterschied?
In der Geschichte. «Fleischkäse» gehört nicht zu einer brutalen Abwertung von weissen Menschen in der Vergangenheit, aber das «M»-Wort gehört zur Geschichte einer Ausbeutungspraxis, in welcher Menschen versklavt, misshandelt und ihrer Freiheit beraubt wurden. Geschichtlich wurde früher das «M»-Wort abwertend für Schwarze Menschen verwendet. Und auch heute noch berichten Schwarze Kinder regelmässig, dass sie genau mit diesem Begriff geplagt werden. Das sind dann nicht mehr einfach harmlose Handlungen, sondern absichtliche Abwertungen.
Trotzdem sehen viele Eltern nicht ein, warum ihre Kinder nun plötzlich nicht mehr «Indiänerlen» sollen.
Zelt-Lager spielen ist nicht das Problem. Aber der Begriff «Indianer» ist kolonial geprägt und keine Selbstbezeichnung. Der Begriff wurde von Eroberern eingeführt, die indigenes Land raubten und dafür viele Menschen töteten. Es ist für indigene Menschen gewaltvoll, wenn dieser Begriff, welcher auf schwere Verbrechen verweist, noch immer verwendet wird. Es ist für Eltern ein leichtes, ihren Kindern weniger gewaltvolle Begriffe zu lernen. So kann der Name einer Gemeinschaft - Sioux, Lakota, Inuit - verwendet werden. Und auch hier gilt – es spielt keine Rolle, ob wir das Gewaltvolle eines Begriffes selber nachvollziehen können. Oft können das nur die Menschen, die damit bezeichnet werden. Und auf die lohnt es sich zu hören.
Besonders hart gehen Sie mit den Geschichtsbüchern ins Gericht. Was werfen Sie diesen genau vor?
Die Kolonialisierung wird sehr heroisch dargestellt. Europäische Männer der Kolonialzeit werden als Helden dargestellt. Dabei wird nicht auf die gewaltvolle Geschichte von Mord, Vergewaltigung, Landraub und Verschleppungen eingegangen. Man erzählt mehr oder weniger kritiklos, wie Europa zu seinem Wohlstand gekommen ist. Eine andere Seite als die eurozentrische ist nicht vertreten. Eine kritische Einordnung der Geschehnisse fehlt vollkommen.
Das wäre dann die Aufgabe der Lehrpersonen.
Welche vollkommen allein gelassen werden mit dieser Thematik, und oft auch gar keine Zeit für eine solche Einordnung haben. Vielleicht kann man sich als Lehrperson die Mühe machen, Geschichte auch aus einer anderen Sichtweise zu beleuchten – aber das verlangt viel Eigenleistung. Meiner Meinung nach müssen Lehrpersonen bereits in der Ausbildung lernen, wie man über Diversität und Rassismus spricht, und zwar nicht in einer defensiven Art und Weise.
Nun sind aber Lehrpersonen in einer ganz schwierigen Situation: Sie haben einen Bildungsauftrag, nicht einen Erziehungsauftrag. Dieser liegt nach wie vor bei den Eltern. Und wenn es für diese okay ist, wenn das Kind «Indiänerlet», ist es nicht an der Lehrperson, dies zu unterbinden.
Ja, das stimmt. Aber es ist Sache der Lehrperson, dafür zu schauen, dass im Klassenzimmer und auf dem Pausenplatz ein diskriminierungsarmer Umgang miteinander herrscht.
Und wie sollen Eltern mit dem Thema umgehen?
Man sollte auch als weisse Eltern mit weissen Kindern ernsthaft über rassistische Stereotype reden und den Kindern – und sich selbst – klar machen, dass es viele Vorurteile zu nicht-weissen Menschen in unseren Köpfen gibt. Wenn wir uns dessen bewusst werden, haben wir als Gesellschaft schon sehr viel gewonnen.
Müsste man denn all dieses Schulmaterial – von dem Sie in einer Randnotiz festgestellt haben, dass es auch sexistisch, homophob und behindertenfeindlich geprägt ist – eingestampft und neu geschrieben werden?
Das ist nicht sehr realistisch, aber schön wäre es natürlich. Denn wie gesagt, Kinder werden durch diese Darstellungen verletzt und ich wünsche mir Schulbücher, die das Lernen fördern und nicht Vorurteile bestätigen. Ich sehe unsere Untersuchungen auch als Auftrag an die Lehrmittelverlage, Autoren- und Autorinnen-Teams zusammenzustellen, die so divers sind wie die Kinder in den Schulklassen.
Wie waren die Rückmeldungen auf Ihre Untersuchungen bisher?
Wir bekamen sehr positives Feedback von Schulleitungen und Lehrpersonen und auch von kantonalen Stellen, welche sich überlegen, die Broschüren zu bestellen und in den Schulhäusern zu verteilen. Auch von Eltern und Schülerinnen und Schülern bekamen wir viele Rückmeldungen, dass sie die Broschüren hilfreich finden. Wie erwartet gab es natürlich auch Leute, die den Status Quo verteidigen wollen oder solche, die Hass-Mails schicken. Es ist mir weiterhin ein Anliegen, dass Kinder gerne zur Schule gehen, weshalb ich mich weiterhin für das Kinderrecht auf diskriminierungsfreie Bildung einsetzen werde.