Ein Bahnhof mit Selecta-Automat, gefleckte Kühe und Einheimische, die ihrem Dorf «Chnoflige» sagen. Konolfingen ist eine typische Gemeinde im Berner Mittelland – würden da nicht die Fabriktürme von Nestlé aus der bäuerlichen Idylle ragen. Hier produziert der Lebensmittelgigant spezielle Säuglingsnahrung für den Weltmarkt. Emmentaler Milch für Babys von Europa bis China.
Fabrikleiter Frank Brinkmann, 54, empfängt in einem kahlen Sitzungszimmer, wo er mit seinen festen Schuhen und der Arbeitskleidung gar nicht recht reinpasst. Vor einem Jahr ist er von Rheinland-Pfalz nach Konolfingen gezogen und hat den Posten des Fabrikleiters übernommen. Nun muss er sich mit berndeutschen Wörtern wie «Miuch» und «Schöppele» herumschlagen. Aber das nimmt er gern in Kauf. «Die Berge», sagt er und zeigt durchs Fenster auf die Alpen, «so nah und so schön.» Am Feierabend sei er gern mit dem Velo unterwegs. Nun, viel Zeit bleibt ihm momentan nicht dafür.
Seine Brigade leistet seit Monaten Extraschichten, weil Nestlé die Lieferungen in die USA notfallmässig ausgebaut hat. Der Grund: In einem der reichsten Länder der Welt fehlt das Milchpulver! Dessen grösster Anbieter im Land, Abbott Laboratories, musste Mitte Februar gewisse Produkte wegen gesundheitlicher Bedenken aus dem Verkauf nehmen und eine Fabrik stilllegen. Seither fahren Eltern Stunden, um einen Supermarkt zu finden, in dem das Produkt noch nicht ausverkauft ist.
Die Schweiz eilte den USA als eines der ersten Länder zu Hilfe. Im Mai schickte Nestlé per Flugzeug eine erste Ladung Säuglingsnahrung in die USA: 22 Tonnen oder 1,5 Millionen Fläschchen der Marke Alfamino – Milchpulver für Babys mit extremen Allergien. «Die Erleichterung der Eltern war bis nach Konolfingen zu spüren», sagt Brinkmann. «Feedbacks sind wichtig für unsere Mitarbeiter, die momentan auch am Wochenende arbeiten.»
Für die Still-Lobby mögen Muttermilchersatzprodukte ein Fluch sein. Für Frauen jedoch, die nicht stillen können oder wollen, sind sie ein Segen. Nestlé- Landwirtschaftschef Daniel Imhof, 41, der sich zum Gespräch mit Brinkmann gesellt, ist selbst Vater von fünf Kindern und auf einem Bauernhof aufgewachsen. Er sagt: «Das Beste ist die Muttermilch, das stellen wir nicht infrage. Aber die Krise in den USA zeigt, dass auch ein Bedarf an Ersatzprodukten besteht.» In anderen Ländern herrsche ein raueres Arbeitsklima als in der Schweiz. «Da dauert der Mutterschaftsurlaub weniger als 14 Wochen, und die Arbeitspausen reichen nicht zum Abpumpen – dies erschwert das Stillen.»
Frische Milch ist der wichtigste Rohstoff für die Produktion in der Nestlé- Fabrik in Konolfingen. 600 Bauern aus der Region liefern täglich rund 300 000 Liter. Nach einem detaillierten Qualitätscheck tritt die weisse Flüssigkeit in ein Labyrinth aus Tanks und Röhren ein, wird mit Vitaminen, Mineralien und Ölen versetzt, in mehreren Schritten eingedickt und am Ende als Pulver in Dosen verpackt.
Hygiene hat oberste Priorität. Spezielle Schutzanzüge sind Pflicht. Im Verpackungsbereich hängen Plakate mit Babys und dem Spruch «Ich vertraue dir». Dies soll die Mitarbeiten- den daran erinnern, für wen sie arbeiten und welche Verantwortung damit einhergeht. Ein Fehler – und das Konzernimage leidet brutal. Nestlé weiss, was das heisst. In den 1970er-Jahren geriet der Konzern weltweit in die Schlagzeilen, weil ihm vorgeworfen wurde, er bringe Frauen in Drittweltländern durch sein aggressives Marketing vom Stillen ab und verleite sie dazu, Milchpulver mit verschmutztem Wasser anzurühren.
Als Reaktion darauf erliess die WHO den Internationalen Kodex für die Vermarktung von Muttermilchersatzprodukten, mit dem sich die Mitgliedstaaten dazu verpflichteten, Säuglingsmilch nicht offensiv zu bewerben. Auch Nestlé bekannte sich dazu. Dennoch wird der Konzern regelmässig angegriffen – längst nicht nur wegen der Milch. Vor allem NGOs kritisieren, Nestlé mache mit seinen Produkten Profit auf Kosten der Ärmsten. Die «NZZ» titelte nach der Notfall Milchpulverlieferung in die USA: «Macht Nestlé wegen der Krise in den USA nun gute Gewinne?» Fabrikchef Frank Brinkmann reagiert darauf gelassen: «Hier geht es nicht um Profit, sondern darum schnell Hilfe zu leisten.» Die zusätzlich gelieferten Mengen seien zudem klein im Vergleich mit dem «normalen» Geschäft, sagt er dann.