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Schulstart auf Rätoromanisch

Biathletin Selina Gasparin erzieht ihre Kinder viersprachig

Endlich gehört sie zu den Grossen! Kiana, die vierjährige Tochter von­ ­Biathletin Selina Gasparin, wird ein­geschult. In Lantsch/Lenz GR besucht sie den Kindergarten auf Rätoromanisch. Die Familie hat sich bewusst für die Mehrsprachigkeit entschieden.

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HOCHFILZEN, AUSTRIA - DECEMBER 19: Selina Gasparin of Switzerland competes during the Women 10 km Pursuit Competition at the BMW IBU World Cup Biathlon Hochfilzen on December 19, 2020 in Hochfilzen, Austria. (Photo by Christian Manzoni/NordicFocus/Getty Images)

Selina Gasparin hat Biathlon-Geschichte geschrieben. Auf Saisonende 2022 gab sie ihren Rücktritt bekannt. 

Getty Images

Kiana, 4, streckt die Hand aus. Vor ihr auf dem Boden krabbelt ein Käfer über die Strasse. Sie hebt ihn auf, lässt ihn über ihre Hände spazieren, betrachtet ihn nachdenklich und sagt schliesslich: «I waiss, wo du dahai bisch.» Sachte setzt sie das Tier in einem Johannisbeerbusch ab und nascht gleich noch ein Meertrübeli. Biathletin Selina Gasparin, 39, beobachtet ihre Tochter geduldig.

Sie ist mit ihrer Jüngsten unterwegs zum Grundschulareal der Gemeinde Lantsch/Lenz GR. Von ihrem Holzchalet am Dorfrand aus sind es nur 300 Meter. Aber Kiana braucht dafür ganze 20 Minuten. Denn die kleine Gwundernase hält unterwegs nicht nur für verirrte Käfer an.

Bei Gasparins hat der Leuchtgurt viele Namen

Die kurze Strecke ist Kianas Kindergartenweg. Sie kennt ihn schon, weil sie vor den Sommerferien oft ihre grosse Schwester, Zweitklässlerin Leila, 8, abholen durfte. Nun geht sie ihn täglich. Kiana wurde im August eingeschult und trägt ihre «Tschinta» mit Stolz durchs Dorf. Obwohl sich diese als unpraktisch erweist, wenn man unterwegs am Brunnen einen Schluck trinken will. 

Die herzigen Fotos von der Kleinen auf ihrem Kindergartenweg findet ihr in der Schweizer Illustrierten Nr. 32 vom 11. August 2023.

«Tschinta» ist die umgangssprachliche Bezeichnung für den rätoromanischen Begriff «Tschinta da scoletta», zu Deutsch Leuchtgurt. In Kianas Kindergarten spricht man die vierte Landessprache – respektive Surmiran, das Idiom der Talschaften Albula und Oberhalbstein. In den 150 Bündner Bergtälern hat sich die rätoromanische Sprache über die Jahrhunderte auseinanderentwickelt. Entstanden sind fünf Idiome – Sursilvan, Sutsilvan, Surmiran, Putèr und Vallader – mit individueller Literaturtradition, Grammatik und eigenem Vokabular. Jede Gemeinde entscheidet selbst, welche Sprache an Schule und Kindergarten gelehrt wird. Deshalb ist der Kanton mit seinem Vorhaben, Rumantsch Grischun als einheitliches Romanisch einzuführen, gescheitert.

Weniger als zwei Dutzend Kinder lernen in der Schule Surmiran

In Lantsch ist die Schulsprache Surmiran. Kiana gehört zu einer kleinen Gruppe von weniger als zwei Dutzend Kindern, die pro Jahrgang in diesem Idiom eingeschult werden. Unter erhöhtem Aufwand. Der Kanton Graubünden stellt Lehrmittel in allen Idiomen zur Verfügung, daneben müssen Lehrpersonen einige deutschsprachige Unterlagen jedoch selbst übersetzen.

Surmiran ist nicht die einzige Sprache, die Kiana zusätzlich zu ihrer Muttersprache Deutsch erlernt. In der Familie Gasparin hat die Tschinta weitere Namen: Kianas Papa, der russische Langläufer Ilya Chernousov, 37, nennt den Leuchtgurt «Lyuminestentny zhilet». «Làthatatosagi melleny» heisst er auf Ungarisch, das ist die Sprache der langjährigen Nanny der Familie.

Kiana und Leila profitieren von den Vorteilen der Mehrsprachigkeit

Dass Kiana und Leila viersprachig aufwachsen, ist eine bewusste Entscheidung ihrer Eltern. «Schon ich durfte von einer mehrsprachigen Kindheit profitieren», sagt Selina Gasparin. Ihre Eltern, eine Tessinerin und ein Italiener, sprechen mit Selina und deren Schwestern Elisa, 31, und Aita, 29, Italienisch. Mit den Nachbarn und im Kindergarten lernten die Mädchen damals das Engadiner Idiom Putèr. «Deutsch eignete ich mir in der Skischule und mit meinen Schulfreunden an.» Auch Englisch, Norwegisch sowie ein wenig Französisch und Russisch gehören zum Repertoire der heutigen Grenzwächterin und Nachwuchsförderin bei Swiss-Ski. «Mir fiel es immer leicht, Sprachen zu lernen, mit denen ich im alltäglichen Leben zu tun und zu denen ich auch einen persönlichen Bezug habe.»

«Ich behaupte, dass kein Kind durch Mehrsprachigkeit ­­einen Nachteil erfährt.»

Simone Kannengieser, Sprachwissenschaftlerin

Dieser Erkenntnis verdanken es Kiana und Leila, dass sie die Sommerferien in Ungarn und Russland, wo Ilyas Eltern leben, verbringen durften. «Es ist wichtig, dass Kinder eine Sprache nicht nur sprechen, sondern auch eine emotionale Bindung dazu aufbauen und die Kultur kennenlernen dürfen», ist Gasparin überzeugt. Sie achtet darauf, dass ihre Töchter die Vielsprachigkeit täglich leben. Kiana und Leila gucken TV auf Russisch, konsumieren Hörbücher auf Ungarisch und lesen Kinderbücher in allen Sprachen. «Ich habe irgendwann mal gelesen, dass sich Mehrsprachigkeit positiv auf die Hirnentwicklung von Kindern auswirkt.»

Tatsächlich zeigt die Forschung, dass Kinder davon profitieren, früh mit mehreren Sprachen in Berührung zu kommen. Dies bestätigt Sprachwissenschaftlerin Simone Kannengieser: «Im Bereich der kognitiven Fähigkeiten zeigen sich Vorteile. Mehrsprachige sind einsprachigen Kindern bei den exekutiven Funktionen, also zum Beispiel beim Ausblenden unnötiger Informationen, überlegen. Sie zeigen sich mental flexibler und scheinen ihre Aufmerksamkeit besser lenken zu können.» Ein Umstand, der die Wissenschaftlerin nicht erstaunt. «Das ist eine Fähigkeit, die aufgrund des Wechsels zwischen mehreren Sprachen von klein auf geschult wird.»

Das oft genannte Gegenargument, dass Zweit- und Drittsprachen das korrekte Erlernen der Muttersprache behindern, lässt die Expertin nicht gelten. «Sprachen zu erlernen, fällt nicht allen Kindern gleich leicht. Das hat auch mit natürlicher Begabung zu tun.» Generell könne man aus wissenschaftlicher Sicht jedoch sagen, dass mehrsprachige Kinder über ein besseres Sprachgefühl verfügen und weitere Sprachen einfacher lernen. «Ich behaupte, dass kein Kind durch Mehrsprachigkeit einen Nachteil erfährt.»

Die Gasparins haben keine gemeinsame Familiensprache

Im Falle der Gasparins haben alle in der Familie gesprochenen Sprachen unterschiedliche Wurzeln. Deutsch entstammt dem Germanischen, Russisch den slawischen Sprachen, Ungarisch gehört zu den finnougrischen Sprachen, und Rätoromanisch hat lateinische Einflüsse. Damit die Kinder kein «Chrüsimüsi» mit den vielen Sprachen kriegen, halten sich Selina und ihr Mann an eine einfache Regel: kein Mix. Ihr Znüni nennt Kiana «marenda» (Surmiran), «votoroy zavtrak» (Russisch) und «uzsonna» (Ungarisch) – je nach Gesprächspartner. Und wenn sie auf ihrem Kindergartenweg über die Mauer balancieren will, bittet sie ihre Mama auf Deutsch: «Gibsch miar dini Hand?» Das funktioniere wie ein Funkkanal, der sich öffne, je nachdem, mit wem die Kinder sprechen, so Gasparin. «So lernen sie unbewusst, welche Ausdrücke zu welcher Sprache gehören.»

«Mehrsprachigkeit ist ein ­Geschenk, das ich von meinen Eltern erhalten habe und das ich an meine Kinder weitergebe.»

Selina Gasparin

Dass die Gasparins deswegen keine gemeinsame Familiensprache haben, stört sie nicht. «Die Investition ist es wert! Mehrsprachigkeit ist ein Geschenk, das ich von meinen Eltern erhalten habe und das ich an meine Kinder weitergebe.»

Sylvie Kempa
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Von Sylvie Kempa am 11. August 2023 - 07:00 Uhr