Amélie ist elf Wochen alt, als Chantal Galladé sie zum ersten Mal ins Bundeshaus mitnimmt – und national für Aufregung sorgt. «Babyalarm im Bundeshaus: Darf man das?», titelt der «Blick». «10 vor 10» spricht von einer «Baby-Demo».
«Ohne die Hilfe meiner Mutter hätte ich das Amt nicht ausüben können.»
Chantal Galladé
Galladé, damals 33, alleinerziehend, Studentin und SP-Nationalrätin, will mit der Aktion auf das Fehlen von Krippenplätzen aufmerksam machen. «Ich musste neun Monate auf einen Krippenplatz warten. Ohne die Hilfe meiner Mutter hätte ich das Amt nicht ausüben können.» Gestillt habe sie im Sanitätszimmer auf einem Feldbett, Milch abgepumpt auf dem Parlaments-WC. «Bürgerliche Politiker, mit denen ich es eigentlich gut konnte, sagten mir: Ein Kind im Bundeshaus, das kannst du nicht machen!»
«Beste Freundinnen? Das sind wir nicht!»
Chantal Galladé
19 Jahre später: Amélie und Chantal Galladé (51) sitzen am Esstisch zu Hause in Winterthur, Kater Nino legt sich schnurrend aufs Sofa. «Ich finde es toll, dass du vielen Frauen und Müttern den Weg in die Politik geebnet hast», sagt Tochter Amélie. Ihre erste Erinnerung ans Bundeshaus verbindet die Jura-Studentin mit dem ehemaligen Justizminister Christoph Blocher. «Weil ich stets darum bettelte, sagte mir meine Mutter, dass ich mit drei Jahren erneut ins Bundeshaus mitkommen darf, und zeigte mit den Fingern eine Drei.» So erlebt Amélie an ihrem dritten Geburtstag, dem 12. Dezember 2008, die historische Abwahl von Christoph Blocher vor Ort mit. «Als Eveline Widmer-Schlumpf bei der Vereidigung auch die drei Finger hochstreckte, sagte ich: Ah, die ist jetzt auch drei und darf ins Bundeshaus.» Die beiden lachen.
Die Verbundenheit zwischen Mutter und Tochter ist sicht- und hörbar. Das fängt bei den gleichen roten Fingernägeln an, geht über das schallende Lachen, die schnelle und ausholende Art zu reden bis zur Begeisterung für die Politik, über welche die beiden stundenlang diskutieren können. «Beste Freundinnen? Das sind wir nicht!», sagt Chantal Galladé.
Aber sie hätten eine innige Mutter-Tochter-Beziehung, so Amélie. «Du hast mich schon früh nach meiner Meinung zu Themen gefragt. Davon habe ich profitiert.» Mit 14 Jahren tritt Amélie den Grünliberalen bei und gründet in Winterthur das neue Jugendparlament, mit 16 präsidiert sie das Jugendparlament des Kantons. Auch ihre Mutter lancierte so ihre Politkarriere, allerdings bei der SP. «Ich ging zum ersten Mal auf die Strasse, als Christiane Brunner nicht Bundesrätin wurde.»
Der gemeinsame Podcast entsteht am Küchentisch
Nach 30 Jahren tritt Chantal Galladé 2019 wegen der Haltung der SP gegenüber dem EU-Rahmenabkommen zur Partei aus und wird Mitglied der Grünliberalen. Heute politisiert sie im Zürcher Kantonsrat. Bei den Nationalratswahlen im Herbst setzt die GLP die Politikerin mit nationaler Ausstrahlung auf einen hinteren Listenplatz. «Klar fand ich das schade, aber ich habe nicht aus Karrieregründen die Partei gewechselt, sondern aus Überzeugung. Die SP ist mir zu ideologisch geworden», sagt Chantal Galladé.
Amélie nimmt ihren Laptop. Sie muss ein Interview mit Radiolegende Roger Schawinski (78) bearbeiten. Seit letztem Sommer haben sie und ihre Mutter zusammen ihren eigenen Podcast. Die Idee für den «Galladé Podcast» stammt von Amélie, die sich während Corona «aus Langeweile» Mikrofone und Kopfhörer bestellte und den Podcast «Politik und meh» lancierte. «Zusammen mit meiner Mutter macht es aber mehr Spass. Wir ergänzen uns super.»
Die Gäste – von SP-Ständerat Daniel Jositsch über Komiker Mike Müller bis zu Psychiater Frank Urbaniok – laden sie zu sich nach Winterthur ein. «Nach den Aufnahmen für den Podcast gibts einen gemütlichen Znacht», sagt Chantal Galladé. Mit Schawinski findet das Gespräch ausnahmsweise im Studio des Radio-1-Besitzers statt – Chantal Galladé hatte dort acht Jahre eine politische Kolumne. «Frauen sind weniger risikoaffin, hören bei Problemen schneller auf», sagt Schawinski im Podcast-Gespräch über eine mögliche weibliche Nachfolge für das SRG-Präsidium. «Sind Männer denn die besseren Chefs?», will Amélie darauf wissen.
«Amélie ist ein grosses Talent. Man wird noch viel von ihr hören.»
Roger Schawinski
Über 1000 Leute hören den «Galladé Podcast» pro Folge. Schawinski sagt nach dem Talk: «Amélie ist ein grosses Talent. Man wird noch viel von ihr hören.» Die «NZZ am Sonntag» kürt die 19-Jährige kürzlich zu jenen zehn jungen Schweizer Gesichtern, die man kennen muss. «Natürlich bin ich stolz – aber das bin ich auf meine Kinder generell», sagt Chantal Galladé, die eine zweite Tochter, Victoria, 8, hat.
Amélie Galladé hat ihre Mutter oft begleitet
Wie die Medien und die Politik funktionieren, lernt Amélie schon früh. Ob in der «Arena» («da kriegte ich Cola-Fröschli») oder im «Talk» bei Tele Züri («während den Aufnahmen habe ich Harry Potter gelesen») – sie wollte ihre Mutter begleiten. «Die Argumentenliste für Geschäfte wie den Gripen kannte ich auswendig.»
Als Elfjährige reist sie mit ihrer Mutter ins Flüchtlingslager nach Griechenland, mit 14 unterstützt sie Galladés Appell für ein verschärftes Waffenrecht. Durch ihre Mutter lernt Amélie aber auch die Schattenseiten der Politik kennen. Linke Extremisten versprayen Galladés frühere Mietwohnung, sie wird von einer Frau angespuckt, und ein Stalker verfolgt sie. «Zeitweise waren die Drohungen gegen mich und meine Familie so massiv, dass ich Personenschutz brauchte», sagt Chantal Galladé. Daran kann sich auch Amélie erinnern. «Als wir an eine Kinopremiere gingen, musste ich den Polizisten sagen, wann ich aufs WC wollte.» Einschüchtern liess sich Chantal Galladé davon nie. «Das hat mir später geholfen», sagt Amélie. Denn auch sie erfährt wegen ihres politischen Engagements Kritik und Hass, etwa als sie sich für das Stimmrechtsalter 16 einsetzt. «Kritik gehört dazu, aber die Kommentare in den Online-Newsportalen waren zum Teil so schlimm, dass ich persönlich in die Redaktion anrief, damit sie diese deaktivieren.» Im Gegensatz zu jungen Männern würden Frauen, die selbstbewusst hinstehen, leider immer noch oft aufs Aussehen reduziert. «Oder es heisst, wir seien verbissen», ergänzt ihre Mutter,
«Komm, wir gehen an die frische Luft», sagt Chantal Galladé. Sie und Amélie, die unter der Woche in einer WG in Freiburg wohnt, gehen am Wochenende joggen oder ins Fitness. «Wir können beide nicht lange still sitzen», sagt Chantal Galladé.
Amélie erhielt mit 17 Jahren die Diagnose ADHS
Bei Amélie wird mit 17 Jahren ADHS diagnostiziert. Seither nimmt sie Medikamente, geht in Therapie. «Sie war als Kind sehr streng mit sich selber. Heute ist sie entspannter», sagt Galladé. Sie verstehe jetzt auch, warum Amélie so viel Struktur brauche, sich selbst fürs Zähneputzen einen Wecker stelle. Auch für Amélie, die an Podien über die psychische Gesundheit spricht, war die Diagnose eine Erleichterung. «Ich war immer sehr gut in der Schule, aber es fiel mir schwer, mich länger zu konzentrieren. Heute weiss ich, warum.»
Das Problem sei, dass sich die Medizin bei ADHS – wie auch bei vielen anderen Krankheiten – an Buben orientiere. «Doch im Gegensatz zu Jungs, die etwa im Unterricht durch Rumzappeln auffallen, leiden die Mädchen still vor sich hin. Darum sind bei ADHS so viele Frauen unterdiagnostiziert.»
Beim Spaziergang geht die Diskussion um Gleichstellung in die nächste Runde: «Ich finde das Wort Feminismus wichtig. Und benutze es oft, damit es ein positiveres Image bekommt», sagt Amélie Galladé. «Ich mag das Wort Gleichberechtigung lieber, das schliesst niemanden aus», sagt Chantal Galladé.
Im Gegensatz zu ihrer Mutter, die bereits mit 24 Jahren im Zürcher Kantonsrat sass, will Amélie sich nun auf die berufliche Laufbahn konzentrieren. Nach dem Gymi absolvierte sie Praktika im Europaparlament und bei Anwalt Valentin Landmann, aktuell arbeitet sie neben dem Jura-Studium für die Finanzmedienplattform Ellexx. «Erst wenn ich beruflich unabhängig bin, kommt für mich ein politsches Amt infrage.»
Chantal Galladé ist froh über Amélies Entscheid: «Ich habe einen relativ hohen Preis gezahlt, dass ich so früh in die Politik gegangen bin», sagt sie. Dies zeige sich in der Lücke bei der Altersvorsorge und ihrer beruflichen Karriere, die sie erst später vorantreiben konnte. Dennoch stellte sich Galladé, die heute in Winterthur als Berufsschullehrerin angehende Forstwarte oder Automechanikerinnen unterrichtet, gegen eine 13. Rente. «Wer zahlt dafür? Die Jungen und die weniger gut Verdienenden», sagt Galladé, die ein Amt als Regierungsrätin künftig nicht ausschliesst. «Man hätte besser die Ergänzungsleistungen ausgebaut», wirft Amélie ein. Im Hause Galladé ist die politische Zukunft gesichert.