Ich bin ein Jugo-Kind. Eines, das im Assi-Plattenbau-Viertel aufgewachsen ist. Rund um unseren Spielplatz reihten sich Hochhäuser, Blöcke, Betonwände. Das mag trist klingen. Das Gegenteil aber ist der Fall: Wenn ich «Assi-Plattenbau-Viertel» und «Jugo» sage, dann meine ich das mit all meiner Liebe, die ich dank meiner wunderbaren Kindheit bekommen und manifestiert habe. Ausserdem, und das ist nur einer von tausend Pluspunkten meiner Kindheit, darf ich Ausdrücke wie «Jugo-Kind» und «Assi-Plattenbau-Viertel» sagen, ohne dass ich Schiss haben muss, als ausländerfeindlich abgestempelt zu werden.
Ich will Sie nicht mit allen tausend Pluspunkten aufhalten, die mich zum glücklichen «Assi-Kind» gemacht haben, gerne aber lade ich Sie dazu ein, meine fünf Top-Gründe zu lesen, die mich geprägt haben. Und die ich, derweil bin ich selber Mama, in der Erziehung unseres Sohnes selber einfliessen lasse.
Ich war ein Schlüsselkind. Da meine Eltern oft und viel gearbeitet haben, waren meine grosse Schwester und ich über den Mittag oder nach der Schule oft allein daheim. Das war super. Das Essen stand bereits fix und fertig zum aufwärmen parat. Gegessen haben wir vor dem Fernsehen. Was heute unvorstellbar ist, war damals völlig normal. Und super. Und cool. Und hat null Schaden angerichtet. Aber eigentlich wollte ich was anderes erzählen: Den Schlüssel sah ich nur, wenn meine Eltern gearbeitet haben. Sonst war unsere Türe immer offen. Für das ganze Quartier. Entweder waren andere Mütter da, die mit meiner Mama Kaffee getrunken und Kuchen gegessen haben. Oder ich hab die ganze Spielplatzcrew zu uns eingeladen. Fragen musste ich nie. Bei uns war jeder jederzeit herzlichst Willkommen und durfte sogar zum Zmittag oder Znacht bleiben.
Das war aber nicht nur bei uns so. Im ganzen Quartier standen die Türen und Arme offen. Mal spielten wir bei der italienischen Familie im siebten Stock, mal assen wir Momos bei den Tibetern im dritten Stock, ein anderes Mal versammelten wir uns zum Filmnachmittag bei den Spaniern im neunten Stock. Egal, wo wir gerade waren: Heimelig wars überall. Und überall wussten wir, wo das Chuchichäschtli mit den Süssigkeiten war.
Ramadan, Siestas, balkanische Hochzeiten, das tibetische Neujahr: Im Plattenbau-Viertel kommst du als Kind gar nicht drum herum, all die nationalen und internationalen Feste so zu feiern, wie sie fallen. Ich habe mit Spaniern im Hochsommer Siesta unter dem grossen Baum gemacht, habe mit Moslems während des Ramadans nach Sonnenuntergang geschlemmt, als gäbe es kein morgen, habe mit Tibertern deren Neujahr gefeiert und an albanischen, serbischen und türkischen Hochzeiten Volkstänze gelernt, mit denen ich noch heute an jeder Hochzeit angeben kann. Wie das aussieht? So:
Meine Mutter war 21, mein Vater 23 Jahre alt, als ich zur Welt kam. Heute würde man schon fast von Kindern reden, die Kinder haben. Vor 40 Jahren war es total normal, dass man jung Eltern wird. Für uns Kids war das super. Alle Plattenbau-Eltern waren sehr jung. So jung, dass sie selber lieber lange draussen sitzen blieben, Bier tranken und uns drecklen und spielen liessen, statt uns ums Verrecken auch im Hochsommer um 20 Uhr ins Bett zu stecken. Wir Kinder von der Allmend, so heisst das Viertel in Horgen, ZH, wo ich aufgewachsen bin, durften allesamt abends lange rumrennen, uns auch mal verstecken, mal kurzfristig zum Nielen rauchen verschwinden ohne dass unsere Eltern Panik schoben. Manchmal war eher das Gegenteil der Fall: Wir Kids mussten unsere Eltern suchen. Und das, ihr Lieben, das war vielleicht der allergrösste Spass.
Wir Plattenbau-Kinder verbrachten die meiste Zeit im Freien. Da haben wir Räuber und Poli in allen nur erdenklichen Variationen gespielt. Einmal waren wir italienische Carabinieri, einmal die korrupte Balkan-Polizei, dann spielten wir mal spanische Ausbrecher und stellten die Pink-Panther-Bande nach. Wir beschäftigten uns natürlich auch mit anderen Spielen. Ich weiss noch heute, welche Strassenspiele spanische Kinder, welche italienische Kinder spielen und womit sich tibetische Kinder draussen die Zeit vertun. Ausserdem kann ich in jeder Sprache mindestens ein Wort ganz gross in Kreide auf die Strasse malen. Und ja, darauf bin ich stolz!
Standen jeweils die Sommerferien vor der Tür, wussten wir Kids: Es geht für mindestens vier Wochen in die Heimat unserer Eltern. Und weil diese so viel Bagage hatten, schliesslich freute sich jeder über Schweizer Schokolade, Kaffeebohnen und Toiletten-Artikel, reisten wir jeweils mit voll beladenen Autos nach Serbien, Italien, Spanien, in die Türkei, you name it. Klar: Die Fahrten waren lang. Die Temperaturen heiss, die meisten Autos hatten noch keine Klimaanlage. Aber: Ich erinnere mich nur zu gerne daran, wie wir mit anderen Familien reisten. Wir Kinder wurden mitten in der Nacht aus den Betten geholt und schlafend ins Auto getragen. Es gab selber gemachte Sandwichs, wir durften Cola trinken, Spiele spielen und an den Raststätten Pommes und Schnitzel mit den anderen Familien essen. Manchmal machten wir draussen Picknicks. Und unsere Mamas wuschen uns mit so kleinen Bechern hinter Raststätten den Dreck von den Füssen. So viel Spass. So viel Lachen. So viel Abenteuer. Ich gäbe viel darum, die Zeit immer wieder mal zurückzudrehen.