Früh am Morgen dieses wunderschönen Tages schweben die Bösen vom Walliser Bergdorf Grächen mit Märchen-Gondelbahnen auf die Hannigalp. Das Transportmittel passt perfekt: Das Eidgenössische Frauen- und Meitlischwingfest erzählt ebenfalls fabelhafte Geschichten.
Die achtminütige Fahrt zeigt Weisshorn und Matterhorn im strahlenden Licht. Auf dem über 2100 Meter hohen Plateau hinter der Bergstation vermitteln Eringer Kühe mit ihrem Glockengebimmel Schweizer Heimatgefühle. Ebenso wie der Plüsch-Song «Heimweh» aus dem Lautsprecher. Es herrschen kühle acht Grad, als die ersten «bösen» Frauen in der Freiluftarena erscheinen.
Die kleinsten heissen Zwergli
112 Schwingerinnen holen ihr Notenblatt ab. 27 Frauen kämpfen an diesem Fest um den Königinnentitel. Auch 85 Meitli und Zwergli (bis neunjährig) zwischen fünf und fünfzehn Jahren wuseln aufgeregt herum.
Dann ist es so weit: «Froue u Meitli, a d Arbet!», ruft der Platzspeaker. Zwergli Vera Schlüchter, 9, folgt der Aufforderung eher widerwillig. Die Drittklässlerin aus Aeschlen ob Gunten BE steht unter Strom, Nervo sität und die Auslosung bereiten ihr Bauchweh. «Ich habe Vera Bachblütentropfen verabreicht», sagt Mutter Carmela Schlüchter, 42. Vater Mathias, 44, ergänzt: «Wenn meine Tochter vom Platzspeaker zum Duell gegen ihre grosse Rivalin Elea Schweizer aufgerufen wird, kann es vorkommen, dass sie vor Aufregung nur noch hustet und über Schmerzen in den Armen klagt.»
Die Bachblütentropfen zeigen Wirkung. Vera Schlüchter gewinnt den ersten Gang mit der Maximalnote 10.00. Harziger verläuft der Auftakt für ihre Schwestern Laura, 11 (Niederlage), und Gianna, 12 (Unentschieden). Vera, Laura und Gianna sind durch ihren Vater – er gehörte einst zu den 120 besten Bösen des Landes – zum Schwingsport gekommen.
Seine Gabenpreise zu Hause haben die Töchter immer fasziniert. Vor zwei Jahren nahm er sie erstmals in die Schwinghalle Bumbach BE mit. Seither absolvieren seine Kinder dort regelmässig Trainingseinheiten.
Bis zur Mittagspause gewinnt die kleine Vera alle drei Gänge. Auf die Frage, was sie im Schwingsport dereinst erreichen will, antwortet sie keck: «Ich möchte Schwingerkönigin werden.» Gianna und Laura geben später die gleiche Antwort.
Zwei Zwillingsschwestern sind für einander da
Auch die Zwillinge Mira und Ronja Währy, 9, möchten irgendwann Schwingerköniginnen werden. Die Baselbieterinnen aus Aesch brauchen sich keine Sorgen zu machen, im Verlauf des Tages gegeneinander antreten zu müssen. Mira zog sich kurz vor dem Fest eine Sehnenverletzung zu. Auf der Hannigalp humpelt sie an Krücken durchs Gelände. «Ich bin heute ganz für meine Schwester da. Ich tröste sie, wenn sie verliert, und umarme sie, wenn sie gewinnt», sagt Mira.
Ronja ist froh darum: «Mira gibt mir Kraft, sie motiviert und korrigiert mich. Ich fühle mich nicht allein, wenn sie da ist.» Trotzdem verliert Ronja den dritten Gang. Als sie den Sägemehlring verlässt, gibt ihr Mira einen Kuss.
Mira und Ronja Währy schwingen seit anderthalb Jahren. «Wir besuchten im Frühling 2022 ein Schwingfest in Oberwil. Nach dem Schnupperschwingen waren meine Töchter begeistert», erzählt Mutter Jessy Währy. Seither schwingen sie für den SK Oberwil BL. Mira findet den Schwingsport cool. «Schwingen macht Spass, aber es ist ganz schön anstrengend.»
Die Mutter ist stolz auf ihre Zwillingstöchter. «Mir geht das Herz auf, wenn ich sie im Sägemehl sehe. Schwingen ist die beste Lebensschule», sagt die 40-jährige Baselbieterin. Bei diesem Sport seien Anstand und Respekt wichtig: «Mira und Ronja lernen auch, mutig zu sein. Schön finde ich die Kinderfreundschaften, die sich an den Festen ergeben. Sie sind wichtig für ihre Entwicklung.»
Der Zwergli-Showdown
Unten im Dorf hält der Gabentempel attraktive Preise bereit. Im Schaufenster sind etwa Wertgutscheine, Sackmesser, Kuhglocken, Skibrillen, Caps, Rucksäcke, ein Paar Ski und Feldstecher auszumachen. Gerahmte Bilder repräsentieren die Lebendpreise: Eringer Rind, Schwarznasenschaf, Schwarzhalsziege – und Kaninchen für die Mädchen.
Vera Schlüchter marschiert ein letztes Mal zum Brunnen. Sie ist fokussiert, netzt ihr Gesicht an. Der Schlussgang steht an – und wer steht ihr gegenüber? Natürlich Elea Schweizer! 1500 Schwingfans schauen gebannt auf die beiden Zwergli, die die Schwingsaison dominiert haben.
Nach 2:47 Minuten gewinnt Elea mit Kopfgriff. Als Jahresbeste holt sie den goldenen Zweig. Vera kann sich mit dem silbernen trösten. Bei der Rangverkündigung wählt sie im Gabentempel eine Glocke aus.
Bei den Grossen gewinnt Angela Riesen. Ein Foto mit der Königin, das wärs! Es klappt, und danach schweben die Bösen nach Grächen hinunter. Bei der Talstation fällt ein Durchgangstor für die kleinen Gäste auf. Darauf steht: «Willkommen im Märchenland». Wie wahr!