«Damals haben wir noch richtig gut ausgesehen, gell?», sagt Emil Ilg und schaut auf das Foto aus Kindertagen. «Was heisst noch? Ist meine Brille nicht up to date?», fragt Fritz zurück. Emil nickt, stupst liebevoll den Arm seines Zwillingsbruder an: «Doch, doch!» Die beiden 97-Jährigen schmunzeln.
Die Zwillingsbrüder sehen sich nur noch alle paar Monate
Zehn Jahre alt waren die zwei auf dem Foto von 1935, wunderfitzige Viertklässler. Emil hat das Bild mitgebracht, eine Bekannte hat ihn zu seinem Zwillingsbruder gefahren. Fritz ist mit Ehefrau Elisabeth im Betagtenzentrum Viva im Luzerner Quartier Wesemlin zu Hause. Emil lebt in einer Wohnung im Seniorenzentrum Wiesengrund in Winterthur ZH, seine Frau Silvia ist vor zwei Jahren an Corona gestorben.
Alle paar Monate ist Emil bei seinem Bruder zu Besuch. Die beiden haben einander immer viel zu berichten.
Der Vater kann Emil und Fritz nicht unterscheiden
Vor allem das erste Drittel ihres Leben sei parallel verlaufen, beginnt Fritz zu erzählen. In Embrach ZH kommen die eineiigen Zwillinge am 13. März 1925 auf die Welt, Emil sechs Stunden vor seinem Bruder. Jahrelang gleichen sie sich wie ein Ei dem anderen, nicht einmal der Vater kann sie unterscheiden. Sie sind immer gleich gekleidet, in der Schule sitzen sie auf derselben Bank, schreiben meist die gleichen Noten, «ohne einander abzuschreiben!»
«Zum Glück haben wir uns nie in dieselbe Frau verliebt!»
Emil Ilg
Als Jungen hatten sie ab und zu Krach, «seither nie mehr. Wir sind ein Herz und eine Seele, waren zeitlebens füreinander da.» Emil lacht, sagt: «Zum Glück haben wir uns nie in dieselbe Frau verliebt!»
Ihre Ähnlichkeit erlaubt den Brüdern einige Streiche
Mit Schmunzeln erinnert er sich an die Inspektionen in der RS. Hatte einer seine Schuhe ordnungsgemäss geputzt, vertrat er seinen Bruder, wenn dieser an die Reihe kam, «der Kadi hats nie gemerkt».
Emil will Lehrer oder Architekt werden, doch die Eltern haben nicht das Geld für eine solche Ausbildung. «Unser Vater verdiente als Hilfsarbeiter damals 98 Rappen in der Stunde. Ein Kilo Brot kostete 45 Rappen, ein Cervelat 20.» Als 14-Jähriger beginnt Emil eine Lehre als Töpfer, Fritz als Keramikmaler. 1945 tritt Emil in Vevey VD eine Stelle in einer Töpferei an. Ein paar Monate später kommt Fritz nach, fängt in derselben Firma an, lebt bei Emil und dessen Frau am Genfersee. Mit 27 zieht Emil nach Luzern, kurze Zeit später arbeitet auch Fritz dort im selben Töpfereibetrieb, als Keramikmaler.
Mit 30 gehen die Zwillingsbrüder getrennter Wege
Im Alter von 30 Jahren trennen sich die Wege. Beide machen eine kaufmännische Lehre. Fritz arbeitet fortan bei der Suva in Luzern, spezialisiert sich auf das Thema Hinterlassenenrente, steht in engem Kontakt mit Betroffenen.
Emil bildet sich bei Sulzer in Winterthur weiter und ist Anfang der 1960er-Jahre einer der ersten Programmierer der Schweiz. Eine Zeit lang fliegt er regelmässig nach Paris, um mit dem einzigen IBM-Computer in Europa seine Programme zu testen. Später leitet er in Zürich ein Datacenter, dann in einer internationalen Ölfirma die Digitalisierung des Finanzwesens.
Ihre Leben weisen unglaubliche Parallelen auf
Während all dieser Jahre besuchen sich die Zwillingsbrüder so oft wie möglich. Beide werden Vater von vier Kindern, in derselben Reihenfolge: ein Mädchen und drei Buben. Beide verlieren ihren ersten Sohn. «Unsere Frauen haben uns nie verwechselt.»
Unabhängig voneinander kaufen sich die Zwillinge eines Tages eine identische Krawatte, einmal lassen sie sich in ihren jeweiligen Ferien einen Schnauz wachsen. Am Tag, als Emil mit 50 einen Herzinfarkt hat, kämpft auch Fritz mit Herzproblemen. Noch mit 90 Jahren nimmt Emil an Tischtennis-Wettkämpfen teil, noch heute spielen beide Schach.
Nach der Pensionierung sind beide Brüder gestalterisch tätig
Nach ihrer Pensionierung konzentrierten sich die Brüder voll auf ihre Passion. In seinem Töpferatelier samt Brennöfen entwickelt Emil Unikate in Form und Glasur, präsentiert sie an Ausstellungen im In- und Ausland. Auch Fritz hat ein eigenes Atelier, dort schafft er keramische Thementafeln und malt Bilder, auch seine Ausstellungen stossen auf grosse Beachtung.
Mit 75 Jahren haben die beiden eine gemeinsame Ausstellung. Zusammen veranstalteten sie Töpferkurse. «Zwilling zu sein, ist für uns eine grosse Bereicherung.»
So feiern Emil und Fritz Ilg ihren 98. Geburtstag
Zum 98. Geburtstag am 13. März wird jeder dem anderen wie immer einen langen Brief schreiben. Fritz von Hand, Emil auf dem Computer. Für den Kontakt mit einigen seiner Enkel nutzt Emil Facebook und Whatsapp. Beide lesen täglich Zeitung, «nicht nur die Todesanzeigen».
«Das letzte Drittel unseres Lebens ist das schönste, gell?»
Fritz Ilg
«Ich habe zwar die schickere Brille», sagt Fritz, «doch sonst sind wir identisch.» Emil nickt: «Wenn einer von uns stirbt, folgt der andere ihm bald nach.» Darüber macht sich Fritz keine Gedanken: «Auch wenn wir nicht mehr so wie früher aussehen: Das letzte Drittel unseres Lebens ist das schönste, gell?» – «Ja!»
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