Anlauf, schnelle Körpertäuschung, Sprung, Schuss, Tor. Scharf, raffiniert, präzise. Unhaltbar! Typisch Schmid. Business as usual auf dem Handballfeld. Nur ist auf dieser Spielfläche einiges anders als gewohnt. Das Tor misst 1,8 × 1,5 Meter statt der üblichen 3 × 2 Meter. Gespielt wird in einem umgebauten Wohnzimmer im Untergeschoss eines Reihenhauses in Walldorf bei Heidelberg (D). Und der Scharfschütze am Ball heisst mit Vornamen Lio, nach seinem Sternzeichen Löwe. Sein offensichtliches Ballgefühl aber hat der Siebenjährige vom Papi geerbt.
Der heisst Andy Schmid, ist 36, Spielgestalter beim Bundesliga-Klub Rhein-Neckar Löwen und der beste Schweizer Handballspieler der Geschichte. Mit Lio und dessen jüngerem Bruder Levi, 3, verbringt Schmid einen guten Teil seiner Freizeit im Handballzimmer. «Ein Freund hat uns das Tor gebaut. Die Jungs lieben es, sie wollen täglich Bälle gegen mich werfen», sagt der Mann, der die Löwen 2016 und 2017 zu zwei deutschen Meistertiteln, 2018 zum Cupsieg und 2013 zum EHF-Europapokal geführt hat. Und der fünf Mal in Folge zum wertvollsten Spieler der Bundesliga gewählt wurde.
Zum Welthandballer des Jahres aber wurde der Profi noch nie gekürt. Und das liegt einzig an der Schweizer Nationalmannschaft. Seit dem vierten Platz an der WM 1993 dümpelt diese im Mittelmass. Ihre letzte Teilnahme an einer Länder-Meisterschaft datiert von 2006, wo sie an der EM nur teilnehmen durfte, weil diese im eigenen Land ausgetragen wurde. Die grosse internationale Bühne fehlte Schmid. Doch dieser Makel wird nun getilgt: Gegen Belgien und die Handballmächte Serbien und Kroatien holte sich
die Schweiz die Qualifikation für die Europameisterschaft diesen Monat in Schweden, Norwegen und Österreich.
Heute Freitag, 10. Januar, trifft sie in ihrem ersten Spiel in Göteborg auf die Gastgeber, zwei Tage später auf Polen und wiederum zwei Tage danach auf Slowenien. Zwei dieser Gegner muss das Team hinter sich lassen, um in die Finalrunde der besten zwölf vorzustossen. «Schwierig, aber nicht unmöglich», nennt Andy das. «Slowenien ist sehr stark, doch Schweden und Polen sind im Umbruch, auch wenn Schweden vom Heimvorteil profitiert.»
Dabei kann Familienmensch Schmid auf den Support seiner Liebsten zählen. Ehefrau Therese, 34, wird mit den Jungs die ersten zwei Spiele vor Ort verfolgen. Danach gehts gleich zurück nach Deutschland; Lio muss wieder zur Schule, Levi in den Kindergarten. Für allfällige Finalrundenspiele, sagt Schmid schmunzelnd, müsste er mit den Walldorfer Schulbehörden verhandeln: «Wenn ich jemals die Chance habe, meinen Status auszunützen, dann wohl in diesem Fall.»
So oder so wird die EM für Schmid ein sportlicher Höhepunkt. «Ich bin zwar zu alt, um deswegen noch hibbelig zu werden. Aber das Turnier ist schon das Puzzleteil, das meiner Karriere noch fehlt. Ich habe mich zum Weitermachen in der Nati entschlossen, weil ich vom Konzept von Trainer Michael Suter überzeugt bin, auf Spieler zu setzen, die bereit sind, dem Handball alles unterzuordnen.»
Schmid hat der Nati nicht nur mit seinen fast 900 Toren in rund 180 Länderspielen geholfen, sondern auch als Vorreiter. Würden mehr Schweizer Talente den steinigen Weg in eine ausländische Profiliga wagen, statt auf wirtschaftliche Sicherheit in der Schweiz zu bauen, ginge es auch mit der Landesauswahl schnell aufwärts, prophezeite Schmid vor Jahren. Er behielt recht: Der Stamm des EM-Teams besteht aus Profis, die ihr – im Vergleich zum Fussball bescheidenes – Geld in Deutschland oder Frankreich verdienen.
Ein Weg einst auch für Lio und Levi? Gut vorstellbar. Noch schnüren sie die Sportschuhe wettkampfmässig aber für die Fussballjunioren des FC Astoria Walldorf. «Da hat sich mein Einfluss durchgesetzt», sagt Mama Therese lachend.
Die Norwegerin, die selber Fussball gespielt und ihren Mann über einen norwegischen Teamkollegen von Andy zu dessen Zeiten bei GC Amicitia Zürich kennengelernt hatte, sieht aber das wahre Talent ihrer Söhne auch: «Irgendwann werden sie im Handballklub sein. Man merkt, dass ihnen diese Sportart einfach im Blut liegt.»
Vielleicht beschleunigt das aktuelle Lieblingsbuch von Lio und Levi den Spartenwechsel. Es heisst «Mein Sprungwurf» und ist von Andy selbst geschrieben worden. «Meine Jungs fragten mich, warum es Bücher über Fussball spielende Kinder gibt, aber keines über Handball. Da erinnerte ich mich an eine Löwen-Anhängerin, die sehr gut zeichnen kann, und bat sie, eine Geschichte zu illustrieren, die ich verfassen würde.» Um «Respekt, Fairness, Freundschaft und den besten Sport der Welt» geht es darin. Dauerhaft zum Autor wird Andy aber nicht.
Wenn sein Vertrag in Mannheim 2022 ausläuft, ist er 38. «Zeit, aufzuhören, solange ich auf dem Platz noch liefern kann. Und dann kehren wir heim in die Schweiz, um endlich richtig Wurzeln zu schlagen.» Seit 2010 bei den Löwen, sieht Schmid das künftige Lebenszentrum in seiner Heimatstadt Luzern: «Wir sind dort bereits auf Wohnungssuche.»
Auch für Therese kommt eine andere Destination nicht mehr infrage: «Andy hatte früher etwa auch Angebote aus Barcelona. Damals wäre ich gerne dahin. Doch auch wenn es uns nun in Deutschland gefällt, zieht es uns zur Familie in die Schweiz.» Lio und Levi werden dann Schweizerdeutsch auch sprechen und nicht mehr nur verstehen. Noch unterhalten sie sich mit Mama auf Norwegisch und mit Papa auf Hochdeutsch.
An eine Fortsetzung des angefangenen Sportund Wirtschaftsstudiums in der Heimat denkt Andy nicht. «Ich sehe auch meine Zukunft nach der Aktivzeit im Handball-Business. Derzeit am ehesten beim Schweizer Verband, sei es irgendwann als Trainer, sei es im Marketing.» Gespräche gabs bereits. Noch aber verzückt Andy Schmid als Handballer. Und will sich an der EM mit der Schweiz den ersehnten Lebenstraum erfüllen.