Maycol «Maycolino» Knie jun. (6) hat es eilig. Er stürmt in den Buffetwagen des Circus Knie, um ein Paket abzuholen, das dort für ihn abgegeben wurde: sein neues Trampolin! Der Buffetwagen ist quasi die Annahmestelle des Circus Knie, da er meist besetzt ist.
Vor der Theke geht das Geschäft seinen gewohnten Gang: gebrannte Mandeln, Popcorn, ein Glas Wein, Kaffee. Vom jüngsten Knie-Sprössling dahinter nimmt niemand Kenntnis. Und so soll es auch sein im Zirkus: Was hinter den Zeltplanen passiert, bleibt den Besuchenden verborgen. Die Show findet im Rampenlicht statt.
Backstage bleibt buchstäblich im Dunkeln. Denn schreitet man nach hinten durch die «Türe» – so nennt man den Vorhang, der die Manege vom Sattelgang trennt –, landet man in einem schwarzen Loch. Es herrscht dichtes Gewimmel: Artistinnen und Artisten wärmen sich auf, machen Dehnübungen. Eine Armee von Helfern eilt durchs Stangenkonstrukt, welches das Gradin trägt – die Zuschauertribüne in der Zirkussprache. Jeder Quadratzentimeter wird genutzt, um die vielen Requisiten zwischenzulagern. Sie müssen schnell griffbereit sein.
An einer Querstange übt eine dunkle Silhouette Klimmzüge: Comedian Peter Pfändler (63) der dieses Jahr an der Seite von Komikerkumpel Carlos Amstutz (47) mit dem Circus Knie auf Tournee ist. «Ich habe mit einer Artistin gewettet, dass ich Ende Saison 20 Klimmzüge schaffe», sagt er. «Daran arbeite ich hart.»
200 Mitarbeitende aus 19 Ländern
Im Salonwagen des Zirkus sitzt Doris Knie (44) vor dem Laptop. Die Tochter von Franco Knie (69) kümmert sich als administrative Direktorin um den Bürokram. Personalfragen, Bewilligungen bei Behörden, Marketing und Kommunikation – bei ihr laufen die Fäden zusammen. Auch das ganze Tourmanagement liegt in ihren Händen.
Das hat es in sich: Rund 200 Mitarbeitende aus 19 Ländern sorgen dafür, dass der Betrieb an 296 Tourneetagen reibungslos funktioniert – vom Schlosser und Schreiner über den Schneidermeister, Pferdepfleger, Küchenchef und die Tourneeleitung bis hin zum Kapellmeister mit seinen sechs Musikern. Und natürlich den 62 Artistinnen und Artisten. «In über 20 Jahren, in denen ich das mache, habe ich viel Routine aufgebaut», sagt Doris Knie. «Und dennoch ist jeder Tag im Zirkus anders. Man muss flexibel sein, die Ruhe bewahren und improvisieren können.»
700 Kilo Stroh pro Tag
Auf dem Platz neben den Pferdestallungen dreht Pferdepfleger Zouzou den Wasserhahn auf. Agadir, der Araber-Hengst, kann es kaum erwarten, bis der Strahl aus dem Gartenschlauch seinen Körper trifft. Die «Pferdewaschanlage» ist beim Circus Knie jeden Tag in Betrieb, denn das Fell der Tiere muss glänzen für den grossen Auftritt.
Ein Zelt weiter hinter gibt eine Frauenstimme sanft Anweisungen. Es ist Chanel Marie Knie (13) die Tochter von Direktorin Géraldine Knie (51). Mit zwei Friesenpferden probt der Teenager in einer Trainingsmanege eine Nummer, still beobachtet von Grossvater Fredy Knie jun. (77). «Ich bin stolz, dass bereits die achte Generation unsere Familientradition der Pferdedressur weiterführt», sagt der berühmte Tiertrainer. «Wunderbar, zu sehen, wie Mensch und Tier immer besser zusammen harmonieren.»
Das ist nicht erstaunlich, denn den Zirkuspferden mangelt es bei den Knies an nichts. Jede Box der 24 Pferde und zwölf Ponys – sowie auch der vier Kamele – im Stallzelt hat freien Auslauf.
Täglich werden die Tiere mit 370 Kilo frischem Heu, 120 Kilo Hafer, 330 Kilo Spezialfutter, 35 Kilo Karotten und 10 Kilo Vitaminwürfel verpflegt. Zudem dürfen sie regelmässig auf die Weide. «Oft gehen wir mit Freunden ausreiten», verrät Ivan Frédéric Knie (22) der ältere Halbbruder von Chanel. «Das ist eines der schönsten Hobbys, für das wir uns gern Zeit nehmen.» Er ist es, der sich um das Wohl der Pferde, ihren Transport und den Auf- und Abbau der Stallungen kümmert. Diese werden täglich mit 700 Kilo Stroh eingestreut. Entsprechend fallen pro Tag auch sieben Kubikmeter Mist an, die – falls immer möglich – an Bauern, Gärtnereien oder Baumschulen abgegeben werden.
Eine grosse Familie – mit den Knies
Es beginnt zu regnen. Auf dem nassen Natursteinbelag des Zürcher Sechseläutenplatzes widerspiegeln sich die Lichter der Zeltbeleuchtung. Comedy-Magier Dustin Nicolodi (40) in der Rolle des «Great Coperlin» einer der Publikumslieblinge in dieser Saison, klappt den Tischtennistisch aus, der zwischen den Zirkuswagen steht. Luftakrobat Wioris Errani, ein Schwager von Géraldine Knie, eilt hinzu. «Wollen wir?» Die beiden schenken sich nichts im Pingpong. «Manchmal gehts hier zu wie an einer Weltmeisterschaft: Chinesen gegen Marokkaner, Italiener gegen Franzosen, Schweizer gegen den Rest der Welt», sagt Knie-Mitarbeiter Marco und lacht.
Géraldine Knie sitzt auf der Terrasse ihres Garderobenwagens und schaut dem fröhlichen Treiben zu. «Dieses Unternehmen ist mein Lebensinhalt», sagt die künstlerische Direktorin des Circus Knie. «Es ist eine Ehre, dass ich darin mehr und mehr Verantwortung übernehmen darf. Mein Ziel ist es, dem Publikum Glücksmomente zu schenken in dieser sonst so traurigen Welt.»
Als Familie dem Zeitgeist trotzen
Géraldine sieht es als Glücksfall, dass die Familie Knie bereits in der achten Generation den Zirkusbetrieb führen kann. Das ist nicht selbstverständlich angesichts der modernen Unterhaltungswelt mit all ihren Möglichkeiten. Dass sich auch eine junge Altersgruppe dennoch fürs Zirkusleben mit all seinen Unwägbarkeiten entscheidet, macht Géraldine stolz.
Was ist das Geheimnis, in der heutigen Zeit ein solches unsubventioniertes Unternehmen erfolgreich zu leiten und jedes Jahr eine völlig neue Show zu präsentieren? «Wir sind wirklich wie eine grosse Familie», sagt Géraldine. «Die geht weit über uns Knies hinaus. Es gehören alle dazu: Artistinnen und Artisten, Helferinnen und Helfer, Freunde und Bekannte in der ganzen Welt.»
Vielleicht verrät dieses Detail alles: Der Familientisch ist Géraldine Knie augenscheinlich heilig. «Ich koche jeden Tag», sagt sie. «Um zwölf Uhr sitzen alle am Tisch und reden. So schlägt das Herz des Circus Knie.»